KI ist ein Werkzeug, das bereits seit Jahren in der Wissenschaft eingesetzt wird.

KI ist ein Werkzeug, das bereits seit Jahren in der Wissenschaft eingesetzt wird.

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Meinung

Nie wieder Wissenschaft wie bisher

Wenn neue Werkzeuge entwickelt werden, dann werden sie von den einen bejammert und von den anderen verwendet.

Wir erleben eine Zeitenwende. Der Oktober 2024 wird wohl wissenschaftshistorisch in Erinnerung bleiben, als der Zeitpunkt, an dem klar wurde, dass Künstliche Intelligenz die Wissenschaft völlig revolutioniert. Gleich 2 Nobelpreise – für Physik und für Chemie – wurden an Forschung aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz vergeben. Und das, obwohl man dem Nobelpreiskomitee eigentlich nachsagt, nur sehr behäbig und oft mit jahrzehntelanger Verzögerung auf neue Entwicklungen zu reagieren. Man kann das als Zeichen eines Umbruchs betrachten: ab jetzt forschen Menschen und Maschinen gemeinsam.

Ist das noch Physik?

Der Physiknobelpreis wurde für mathematische Grundlagen des maschinellen Lernens vergeben – also für die ersten Schritte auf einem Weg, der in den letzten Jahren zu modernen KI-Werkzeugen wie ChatGPT führte. Das sorgte unter vielen Physikern und Physikerinnen für Diskussionen: Natürlich ist KI eine der großen wissenschaftlichen Errungenschaften unserer Zeit. Aber ist das Physik? Fällt das nicht doch eher unter Computerwissenschaft? Ist das nicht ein bisschen so, als würde man einen Literaturpreis für ein exzellentes Kochrezept vergeben?

Man kann darüber unterschiedlicher Meinung sein, aber klar ist: Der Nutzen von KI für die Physik ist enorm. Am CERN verwendet man KI, um aus unüberblickbaren Datenmengen genau jene Teilchenkollisionen herauszufiltern, die auf interessante Effekte hinweisen könnten. In der Astrophysik verwendet man KI, um die gewaltigen Weiten des Alls nach interessanten Phänomenen abzusuchen. Beim intelligenten Analysieren großer Datenmengen übertrifft der Computer den Menschen schon längst.

Die Lösung eines alten Rätsels

Doch die Fähigkeiten der KI gehen bereits weit darüber hinaus, das beweist der Chemie-Nobelpreis. In der Biochemie galt das Rätsel der Proteinfaltung lange als eines der großen offenen Probleme: Wenn ein Lebewesen ein Protein bildet, wird dieses Protein Baustein für Baustein zusammengesetzt, nach einer vorgegebenen Reihenfolge, die in der DNA gespeichert ist. Um zu verstehen, wie sich das fertige Protein verhält, genügt es aber nicht, diese Baustein-Reihenfolge zu kennen. Man muss zusätzlich auch wissen, zu welcher dreidimensionalen Struktur sich dieses Protein dann zusammenfaltet. Und diese Proteinfaltung zu berechnen erschien jahrzehntelang unmöglich.

Man versuchte am Computer zu berechnen, welche Kräfte zwischen den einzelnen Atomen und Molekülbausteinen dieser Proteine herrschen, um ihre Faltung vorherzusagen – doch die Trefferquote blieb gering. Bis man dann schließlich bei Google eine andere Strategie ausprobierte: Man löste sich von der Idee, das Verhalten der Proteine physikalisch möglichst exakt zu beschreiben. Stattdessen trainierte man die KI mit einer großen Bibliothek bereits bekannter Proteine – und sie lernte auf diese Weise ganz von selbst, wie sich Proteine typischerweise falten.

Völlig neue Art von Wissenschaft

Das ist eine völlig andere Art von Wissenschaft als bisher. Normalerweise arbeitet man in der Naturwissenschaft mit klaren, nachvollziehbaren Regeln und Schlussfolgerungen. Hier der Ausgangszustand, dort die Naturgesetze – und daraus ergibt sich zwingend, was als nächstes passiert. KI hingegen kann durch Erfahrung Schlüsse ziehen, die nicht aus bekannten Gesetzen folgen, die vielleicht auch nicht zwingend korrekt sein müssen, aber doch eine beeindruckend hohe Trefferquote haben. Man könnte das als „künstliches Bauchgefühl“ bezeichnen.

Computer, erfinde neue Materialien!

Dieselbe Strategie könnte auch die Materialforschung revolutionieren: Man kann heute mit hoch komplizierten Computersimulationen auf quantenphysikalischer Ebene berechnen, welche Eigenschaften ein bestimmtes Material hat – noch bevor dieses Material von irgendjemandem hergestellt wurde. Doch diese Rechnungen sind hoch kompliziert und dauern selbst auf den größten Supercomputern der Welt sehr lange.

Man kann aber auch eine KI mit bereits bekannten Materialien darauf trainieren, ihre Eigenschaften basierend auf Erfahrung vorherzusagen. Was werden wir alles auf diese Weise finden? Vielleicht bessere Materialien für schnellere Computerchips? Für effizientere Solarzellen? Oder den lange gesuchten Hochtemperatur-Supraleiter? Vieles ist möglich.

Ablehnung gehört dazu

Ziemlich sicher wird es Leute geben, die das unerfreulich finden. Die vor einer Maschinen-Wissenschaft warnen, die sich menschlicher Kontrolle entzieht. Die sie irgendwie nicht mehr als „echte“ Wissenschaft sehen. Das wird aber anderen Leuten, die damit grandiose Erfolge erzielen, ganz reale Probleme lösen und das Leben der Menschheit verbessern, herzlich egal sein.

Es wird so sein wie immer in der Wissenschaft: Wenn neue Werkzeuge entwickelt werden, dann werden sie von den einen bejammert und von den anderen verwendet. Und nach ein paar Jahren sind die Jammernden pensioniert und die nächste Forschungs-Generation wächst ganz selbstverständlich mit den neuen Methoden auf. Ob wir das gut finden oder nicht, spielt keine Rolle: Das Zeitalter der KI-Forschung ist da. Alles deutet darauf hin, dass das den wissenschaftlichen Fortschritt beschleunigen kann. Und darüber sollten wir uns freuen.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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