Open Graph

Facebook: Automatische Nutzererfassung läuft an

Während Facebook sich derzeit mit Datenschützern in Europa und einer Klage in den USA (Timeline.com klagte gegen die

) herumschlägt, wird hinter den Kulissen bereits emsig an der großen Neuerung der f8-Konferenz gebastelt: dem neuen “Open Graph Beta”. Das Protokoll soll es externen Internet-Diensten erlauben, eine “neue Klasse von Apps” zu bauen, wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg sagte. Jetzt beginnt die heiße Phase: Nach der Reihe gehen immer mehr solcher Applikationen online. In Österreich wird mit dem anstehenden
die erste große Open-Graph-Anwendung demnächst zur Verfügung stehen.

Bei der Präsentation fühlten sich viele an das 2009 nach Protesten eingestellte Werbe-System “Beacon” erinnert, bei dem die Online-Käufe von Facebook-Nutzern auf bestimmten Partner-Seiten automatisch in ihren Profilen veröffentlicht wurden. In die selbe Kerbe schlägt auch der “Open Graph”: Facebook-Apps, Webseiten sowie mobile Applikationen sollen künftig - nach einmaliger Zustimmung - die Aktionen des Nutzers in dessen Profil automatisch publizieren. “Frictionless Sharing” nennt Zuckerberg das: “Reibungsloses Veröffentlichen”.

Open Graph für Last.fm
Die erste Open-Graph-Anwendung aus Österreich hat die auf Facebook-Anwendungen spezialisierte Wiener Agentur "Die Socialisten" für den in Großbritannien beheimateten Musik-Dienst Last.fm erstellt (siehe Bilderstrecke unten). “Die App sorgt dabei dafür, dass alle auf Last.fm, am iPhone oder mit sonstiger Musik-Software gehörten Songs nahezu in Echtzeit am eigenen Timeline-Profil veröffentlicht werden können”, erklärt sagt Michael Kamleitner, Chef und Gründer von “Die Socialisten” der futurezone. “Über den Ticker werden Freunde auf neue Musik aufmerksam und können mit einem Mausklick den Song per YouTube ebenfalls abspielen.“ Für zwei weitere große österreichische Firmen baut Kamleitner derzeit ebenfalls Open-Graph-Anwendungen.

Doch noch sind zwei wesentliche Dinge offen: Zum einen sind die neuen Timeline-Profile, in denen die Nutzerdaten aggregiert werden sollen, aufgrund eines Rechtstreits mit Timeline.com noch nicht online, zum anderen ist die rechtliche Situation vor allem in Deutschland noch überhaupt nicht klar. Denn dort befindet sich der Like-Button, der auf dem Open Graph aufbaut, unter schwerem Beschuss der Datenschützer.

Der Hintergedanke
“Als Techniker gehen wir sehr optimistisch an den Open Graph heran, verstehen aber auch die Bedenken, die dabei aufkommen”, so Kamleitner. “Wie die neuen Funktionen von den Nutzern angenommen werden, hängt auf der einen Seite davon ab, wie Facebook die Features, zum Beispiel die neuen Schutzmechanismen, behandelt und auf der anderen Seite, was wir Entwickler daraus machen.”

Dass Facebook die Datenerfassung automatisiert, hat seinen Grund. “Der Hintergedanke ist natürlich, mehr Interaktion und Inhalte zu erzeugen und das zu automatisieren”, sagt Kamleitner. Allerdings könnten diese “sozialen Gesten”, die das Online-Netzwerk jetzt erfasse, vom Nutzer aktiv hochgeladene Statusmeldungen, Fotos, Videos nicht ersetzen. “Wenn nur mehr Open-Graph-Content überbleiben würde, hätte Facebook ein ziemliches Problem.” Aus seiner Sicht würde originärer “User Generated Content” derzeit aber nicht abnehmen.

“Reibungsloses Veröffentlichen”
Seit 2010 ist es via Like-Button möglich, eine Beziehung zwischen einem Facebook-Nutzer und einem beliebigen Online-Objekt herzustellen - etwa zu einem Video, einem Foto oder einem Text. Gab es zuvor nur eine Möglichkeit der Verknüpfung zwischen Nutzer und Objekt (“Gefällt mir”), öffnet sich der neue Open Graph und lässt zu, dass die Verbindung zwischen den Objekten ein vom Entwickler wählbares Verb sein kann (z.B. “read a book”, “cooked a recipy”).

“Die Grundidee ist, dass die neuen sozialen Aktionen, die der Open Graph abbildet, also “einen Song hören”, nicht über einen expliziten Button-Klick (wie bei “Like”) ausgelöst werden, sondern implizit durch eine Benutzer-Aktion, also das “Abspielen eines Songs”, sagt Kamleitner. Der klassische “Like”-Button werde noch länger erhalten bleiben, die Grundidee sei jedoch, dass er gar nicht mehr notwendig ist. So offen wie sein Name ist der  “Open Graph” übrigens nicht: “dislike”, “fuck” oder “shit” sind etwa verboten, wie Kamleitner erklärt.

Grenze überschritten?
Viele Anwendungen des Open Graph für Nutzer in Mitteleuropa gibt es noch nicht: Der britische Guardian, der Social Reader der Washington Post, das Video-Portal MyVideo, die iPad-Zeitung The Daily sowie die Facebook-App von Yahoo! können nach einem Klick auf “Add to Facebook” (“zu Facebook hinzufügen”) automatisch im Profil des zustimmenden Nutzers veröffentlichen.

“Die Washington Post geht mir etwas zu weit. Bei Musik und Videos finde ich das ja ganz gut, aber immer zu veröffentlichen, was man gerade liest, ist nicht optimal”, sagt Kamleitner. Als Entwickler will er dafür sorgen, die Funktion möglichst leicht wieder abdrehen zu können oder selektiv zu erlauben - etwa, indem der Nutzer ein Zeitfenster (z.B. bis Ende der Woche) definiert.

Zweifelhafter Jubel
Laut Facebook-Mitarbeiter Casey Muller zeigt die neue Open-Graph-Integration bereits erste Auswirkungen. In einem Blog-Eintrag bejubelte er kürzlich, dass der Musik-Dienst Spotify (der Österreich-Start steht bevor) seit mit dem "Open Graph neu" vier Millionen neue Nutzer gewinnen konnte. Ein Techcrunch-Artikel konterte sofort und zeigte auf, dass der schwedische Musik-Dienst das einzige Musik-Service ist, das von der Facebook-Integration profitiert. Rivalen wie Rdio, MOG oder Earbits würden durch die virtuellen Finger schauen, was User-Zuwachs angeht.

Indes berichtet der Blog "Inside Facebook", dass immer mehr "Read"-, "Listen"- oder "Watch"-Buttons in den Tickern von Nutzern auftauchen würden - ein untrügerliches Zeichen dafür, dass aktuell immer mehr Open-Graph-Integrationen live gehen.

Das Versprechen: Mehr Traffic
“Der neue Open Graph ist stark auf Content-Anbieter zugeschnitten und weniger auf Firmen, die irgendwelche Gewinnspiele machen wollen”, sagt Kamleitner. Und genau jene Content-Anbieter - von großen Online-Medien bis hin zu Musik- und Video-Diensten - erwarten sich von der Open-Graph-Integration einen Traffic-Zuwachs.

Bis zu 300 Prozent könnten damit die Zugriffe, die von Facebook kommen, gesteigert werden, wie Facebook-Manager Christian Hernandez

. Kamleitner schwächt ab: “Das ist unwahrscheinlich, bei hochwertigem Content und geschickter Umsetzung von Open Graph aber auch nicht unmöglich.” Bis zu einem Viertel Zugriffe von Social-Media-Diensten sei für viele entsprechend ausgebaute Webseiten heute nicht untypisch.

Vor allem der Echtzeit-Effekt des “Open Graph” wird laut Kamleitner derzeit noch unterschätzt. “Das macht aus einer langweiligen Content-Page eine spannende Sache, wenn man den Nutzern sagt, dass ihre Freunde gerade das selbe sehen.” Denn dann könne man den Facebook-Nutzern direkt auf der Webseite etwa Videochats oder Live-Kommentare bieten, die diese wiederum länger auf der Content-Seite halten.

Timeline: Fragwürdiger Aggregator
Profitieren soll von der Open-Graph-Integration aber natürlich in erster Linie Facebook. Dazu werden die automatisch erfassten Informationen an drei Orten gezeigt: Der Timeline, dem Newsfeed und dem Ticker, der rechts oben auf der Startseite jedes Facebook-Mitglieds angezeigt werden wird. “Das ist das Feature, von dem wir uns am meisten erwarten”, so Kamleitner. ”Diese Box wird am meisten gesehen werden und zu einer erhöhten Reichweite führen.” In den zentralen Newsfeed würden Open-Graph-Meldungen nur dann wandern, wenn sie von Facebooks Algorithmus “EdgeRank” als relevant bewertet werden - etwa, wenn bestimmter Content zeitgleich von mehreren Facebook-Freunden genutzt wird.

Fragwürdig ist allerdings, warum sich Facebook neuerdings auf die neue Timeline, die die alten Profile ablöst, einschießt. Hier soll oft genutzten Open-Graph-Apps rechts oben ein prominenter Platz eingeräumt werden. “Das werden aber nur Apps schaffen, die wirklich täglich genutzt werden”, sagt Kamleitner. Ob das aber zu erhöhter Interaktion führt, ist unwahrscheinlich. Denn Facebook hat 2006 eigentlich den “Newsfeed” eingeführt, damit die Nutzer nicht die Profile der anderen abgrasen müssen, um Neues zu erfahren. Kamleitner: “Ich sehe nicht, dass die Timeline wichtiger als der Newsfeed wird”

Datenschutz und Privatsphäre - ungelöste Probleme

Dass angesichts der anlaufenden automatischen Nutzererfassung bei Datenschützern die Alarmglocken schrillen, war abzusehen. Kamleitner zufolge passiere das aber auch “aus einem Unwissen heraus”. “Hier geht es nicht um eine ungefragte Datenweitergabe wie bei der “Instant Personalization”, sondern erfordert immer die Zustimmung des Nutzers”, so der Facebook-Entwickler. Ein neues Dialog-Fenster nach dem Klick auf “Add to Facebook” würde sehr deutlich darüber informieren, was die Applikation macht. “Niemand kann behaupten, dass ohne sein Zutun etwas gepostet wird." Im Nachsatz: "Das das nicht alle lesen, ist ein anderes Thema.”

Dass Social Plugins wie der “Like-Button” bereits heute ausgeloggte und Nichtmitglieder erfasst, daran ändert auch der neue Open Graph nichts. “Die neuen Features haben mit Tracking nichts zu tun, weil sie Server-seitig passieren. Wenn aber die neuen Plugins kommen, sieht die Sache wieder anders aus”, so Kamleitner. “Wie auf jeder anderen Webseite kann man den Besuchern einen Cookie unterschieben und ihn tracken.”

Lösungsvorschläge
Der neue Open Graph kann in Facebook-Apps, auf externen (auch mobilen) Webseiten und in Smartphone-Apps eingebaut werden. Für Content-Anbieter stellt sich vor allem eine große Frage: Webseite oder Facebook-App. “Es ist derzeit schlauer, eine separate Facebook-App zu machen und die neuen Features nicht in der eigenen Webseite einzubauen”, sagt Kamleitner. “Das gibt den Nutzern die Chance, sich zu entscheiden, ob sie die normale Webseite besuchen oder die Inhalte sozialer in einer eigenen App konsumieren wollen.”

Sollte sich zudem die Legislative durchsetzen, dass Social Plugins aufgrund von Tracking-bedenken verboten werden, könne man Gefällt-mir-Knopf, Like-Box etc. von der eigenen Webseite ganz entfernen und stattdessen eine eigenständige Facebook-App für all jene bauen, die soziales Konsumieren präferieren. Vorbild für diese Strategie ist die Washington Post, die ihren “Social Reader” separat betreibt - und deren CEO Don Graham sitzt immerhin im Vorstand von Facebook.

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"Die Socialisten" sind eine Wiener Web-Agentur, die sich seit 2007 auf Marketing-Lösungen bei Facebook und anderen Social-Media-Plattformen konzentriert und seither weit über 100 Brand-Pages und -Applikationen umgesetzt hat. Zu den Kunden zählen Axel Springer/Bild.de, Bertelsmann, Gruner+Jahr, die Financial Times Deutschland, ATV und Hitradio Ö3. Außerdem wird mit  österreichischen Social-Media-Agenturen wie Ambuzzador, Super-Fi oder Digital Affairs zusammengearbeitet. Geleitet werden “Die Socialisten” von Michael Kamleitner, der die Agentur gemeinsam mit Andreas Klinger gegründet hat - dieser ist mit seinem Start-up Lookk.com nach London ausgewandert.

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Jakob Steinschaden

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