In der 15-Minuten-Stadt soll man zu Fuß oder mit dem Fahrrad im Alltag alle wichtigen Orte erreichen können.

In der 15-Minuten-Stadt soll man zu Fuß oder mit dem Fahrrad im Alltag alle wichtigen Orte erreichen können.

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Science

Warum die 15-Minuten-Stadt die Welt nicht retten wird

Stadtbewohner müssen einkaufen, zum Arzt, in die Schule und die Arbeit kommen – dafür brauchen sie mal mehr und mal weniger Zeit. Wie viel, hängt von der Stadt ab. Eine neue Studie, die vom italienischen Komplexitätsforscher Vittorio Loreto (Complexity Science Hub Wien und Sony Computer Science Laboratories) geleitet wurde, hat nun die notwendigen Wege in Städten auf der ganzen Welt verglichen, die Bewohner täglich auf sich nehmen müssen. 

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15-Minuten-Stadt liegt im Trend

Städte entwickeln sich nicht zufällig, sondern sie werden von auf Basis von bestimmten Ideen geplant: Baut man beispielsweise mehr Radwege oder neue Parkplätze? Die sogenannte „15-Minuten-Stadt“ ist ein Planungsprinzip, das in den vergangenen Jahren sehr populär wurde. In einer solchen Stadt können Bewohner alle wichtigen Orte, die sie brauchen, in einer Viertelstunde erreichen – egal ob es der Arzt, die Schule, der Supermarkt oder das Gasthaus ist. So soll die Lebensqualität der Bewohner steigen, während die Städte gleichzeitig umweltfreundlicher werden, weil die Abhängigkeit vom Auto sinkt. 

Auch in Österreich inspiriert die Idee Politiker, Planer und Forscher: Derzeit gibt es mindestens 8 mit Steuergeld geförderte Projekte, die sich mit der Umwandlung von Städten hin zur 15-Minuten-Stadt befassen.

„Es gibt einen Konsens, dass wir die Art neu denken sollten, wie wir Städte planen“, erklärt der Forscher Loreto der futurezone. Er ist jedoch skeptisch, dass das Versprechen der schnellen Erreichbarkeit die Lösung für alles sein kann. „Wir haben das Projekt gestartet, weil diese Idee der 15-Minuten-Stadt kursierte, aber im Grunde niemand wusste, wie die Situation derzeit ist. Das wollten wir messen“, sagt er. 

Die Forscher führten deshalb eine große Datenanalyse durch, die bis auf einzelne Nachbarschaften heruntergebrochen werden kann. Eine Karte zeigt, wie nahe Städte global betrachtet derzeit dem Ideal der 15-Minuten-Stadt kommen. Dazu werteten sie u. a. Bewegungsdaten und Informationen von digitalen Kartendiensten aus.

Graz und Wien im globalen Spitzenfeld

Die gute Nachricht der im Fachmagazin Nature Cities veröffentlichten Studie ist, dass österreichische Städte im internationalen Vergleich hervorragend abschneiden. „Wien und Graz sind überragend gute Beispiele und sie zählen weltweit zu den besten Städten insgesamt“, erklärt Loreto. An der globalen Spitze stehe allerdings Paris.

Graz ist die fußgängerfreundlichste Stadt in Österreich, erklärt Loreti der futurezone.  

Österreichische Städte im Detail

Wenn es um die Erreichbarkeit von wichtigen Lokalitäten zu Fuß oder per Rad geht, liegen österreichische Städte im weltweiten Spitzenfeld: „Von allen Städten in Österreich scheint Graz die beste zu sein. 92 Prozent der Bevölkerung leben so, dass sie alles in 15 Minuten zu Fuß erreichen können“, erklärt der Komplexitätsforscher Vittorio Loreto. 

„In Wien sind es fast 91 Prozent, in Anbetracht der Größe dieser Stadt auch eine ziemlich beachtliche Leistung“, sagt Loreto. In diesen Städten nimmt man das Planungskonzept der 15-Minuten-Stadt ernst, so soll es etwa eine wichtige Inspiration für die Seestadt Aspern sein. Auch Graz soll in Zukunft noch stärker nach dem Prinzip umgestaltet werden.  Innsbruck sei mit fast 89 Prozent der Bewohner, die alles Wichtige in einer Gehweite von 15 Minuten haben, gerade noch „gut genug“, wie Loreto sagt. Das Schlusslicht unter den analysierten Städten bilde wiederum die Kärntner Landeshauptstadt. „Klagenfurt liegt mit unter 70 Prozent an letzter Stelle“, sagt Loreto. 

Weil nur Städte mit einer Grundfläche ab etwa 100 Quadratkilometern und mindestens 50.000 Einwohnern ausgewertet wurden, liegen für Städte wie Eisenstadt gar keine Ergebnisse vor. Wie Städte abschneiden, liegt nicht nur an der Stadtplanung, sondern auch an anderen Faktoren wie der Geschichte und der Landschaft. So brauchen etwa die Bewohner des Salzburger Kapuzinerberges naturgemäß länger, bis sie wichtige Einrichtungen erreichen. Schließlich leben sie zwar in der Stadt, aber trotzdem auf einem Berg.  Dasselbe gilt für Bergbewohner in Innsbruck oder für Wiener, die etwa ein Haus   am Wienerwald haben. 
 

In Wien ist das Bild typisch: Je weiter man Richtung Zentrum geht, desto besser wird die Erreichbarkeit.

In Wien ist das Bild typisch: Je weiter man Richtung Zentrum geht, desto besser wird die Erreichbarkeit. 

Man wird Autos und andere Verkehrsmittel brauchen

Leider schnitten die meisten Städte extrem schlecht ab. Viele sind von der 15-Minuten-Stadt so weit weg, dass selbst ein Umbau wenig ausrichten könnte. Die Karte der Forscher zeigt, dass man in den meisten Städten auf der Welt derzeit zu Fuß oder mit dem Rad nicht sehr weit kommt.  Laut den Forschern gibt es aber auch innerhalb der Städte große Unterschiede. „Möglichkeiten haben hauptsächlich Menschen, die im Zentrum leben. Sobald man aber in die Außenbezirke zieht, hat man ein Problem“, erklärt Loreto. 

Die Forscher rechneten auch aus, ob eine gleichmäßigere Umsiedelung von Einrichtungen wie Krankenhäusern, Shops und Schulen Städte gerechter machen würde. Es zeigte sich, dass eine Neuverteilung der Services tatsächlich die Erreichbarkeit in einigen Städten verbessern würde. 

Die meisten Städte auf der Welt sind auf der Karte tiefrot. In manchen müsste man 70 Prozent der Einrichtung woanders hin versetzen, dass die Bewohner sie in 15 Minuten erreichen könnten.

Die meisten Städte auf der Welt sind auf der Karte tiefrot. In manchen müsste man 70 Prozent der Einrichtung woanders hin versetzen, dass die Bewohner sie in 15 Minuten erreichen könnten. 

„Es gibt aber Städte, in denen man nicht einmal mit Tausenden zusätzlichen Services die Situation verbessern kann, weil dort so wenig vorhanden ist“, erklärt Loreto. Als Beispiele nennt er die US-Städte Dallas und Atlanta, die von Grund auf für den Autoverkehr geplant wurden. Dort müsste man bis zu 70 Prozent der Einrichtungen verlagern, um das 15-Minuten-Ziel zu erreichen. 

Hier werde man auch in Zukunft weitere Fahrstrecken in Kauf nehmen müssen. Dazu komme, dass selbst in idealen Städten, wo alles in der Nähe ist, manchmal die Qualität des Angebots nicht stimme: „Sie wollen zu den besten Ärzten gehen? Wenn die im nächstgelegenen Krankenhaus schlecht sind, beginnen Sie, wieder zu pendeln“, so Loreto. 

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Fahrt zur Arbeit macht Planungsidee zunichte

Einen Faktor mussten die Forscher sogar komplett aus ihrer Analyse werfen, weil er selbst in einer 15-Minuten-Stadt wie Wien unmöglich ist und sie komplett rot einfärbte: „Arbeit ist nicht mit der Idee der 15-Minuten-Stadt vereinbar. Man nimmt einen Job an, weil er interessant ist, nicht weil er in der Nähe ist“, erklärt Loreto.  

Die Datenanalyse zeige, dass die 15-Minuten-Stadt für einige wenige Städte ein guter Ansatz sein könne, die sich vor allem in Europa befinden. Für sehr viele andere brauche es aber maßgeschneiderte Alternativen. „Wenn man sich die Zahlen ansieht, merkt man: Die 15-Minuten-Stadt kann nicht das Ende der Geschichte sein.“

In Europa sieht die Lage insgesamt gut aus, bei einigen Städten könnte die Erreichbarkeit noch verbessert werden.

In Europa sieht die Lage insgesamt gut aus, bei einigen Städten könnte die Erreichbarkeit noch verbessert werden.

Infos

Die 15-Minuten-Stadt ist eine Stadtplanungsidee des französisch-kolumbianischen Stadtplaners Carlos Moreno. In so einer Stadt sind alle wichtigen Einrichtungen in einer Viertelstunde fußläufig oder per Fahrrad erreichbar.

Mehr als 2/3 der Europäer leben schon in einer Stadt. Weltweit sind es etwa 50 Prozent – Tendenz steigend.

Datenbasis
Als Datengrundlage verwendeten die Forscher Google Maps und Open Street Maps. Für die Analyse von Bewegungsmustern wurden anonymisierte GPS-Bewegungsdaten verwendet.

8:30 Minuten braucht man in Wien im Schnitt, um wichtige Punkte wie Schulen oder Supermärkte zu Fuß zu erreichen

59:07 Minuten sind es in der US-Stadt Los Angeles

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Jana Unterrainer

Überall werden heute Daten verarbeitet, Sensoren gibt es sogar in Arktis und Tiefsee. Die Welt hat sich durch die Digitalisierung stark verändert. Das interessiert mich besonders, mit KI und Robotik steigt die Bedeutung weiter enorm.

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Jana Unterrainer

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