Kanada will mit künstlicher Intelligenz zur Weltherrschaft
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Google, Amazon, Facebook und Co machen mit ihren Fortschritten im Bereich künstlicher Intelligenz (KI) regelmäßig Schlagzeilen. Dass im Silicon Valley die Zukunft der Technologiebranche gestaltet wird, ist keine große Überraschung. Weniger bekannt ist, dass einige der wichtigsten theoretischen Beiträge zur aktuellen KI-Renaissance nicht in den USA, sondern in Kanada erarbeitet wurden. Spracherkennung, Go-spielende Maschinen und die Echtzeitübersetzung von Texten basieren alle auf dem Prinzip des maschinellen Lernens.
Hier kommen Systeme zum Einsatz, die wenn ihnen das gewünschte Ergebnis und genügend Trainingsdaten zur Verfügung gestellt werden, selbstständig lernen, wie sie einen Text von Deutsch auf Chinesisch übersetzen oder ein beliebiges Brettspiel spielen. Die Technologie ist nicht neu, soll jetzt aber durch Hardware-Fortschritte und theoretische Durchbrüche die Welt verändern. Einige Experten erwarten ähnliche Umwälzungen wie nach dem Aufbau der elektrischen Infrastruktur. Die futurezone war auf Einladung der Regierung in Kanada, um sich das KI-Ökosystem anzusehen.
Nüsse im KI-Winter gesammelt
Für die konzeptionellen theoretischen Fortschritte, die an kanadischen Universitäten gelangen, zeichnen unter anderem der Brite Geoffrey Hinton und der in Frankreich geborene Yoshua Bengio verantwortlich. Sie haben die Grundlagen geschaffen, die Systeme, die wir heute als smart oder intelligent bezeichnen, überhaupt erst ermöglicht haben. Während maschinelles Lernen andernorts in den 80er-Jahren, nachdem sich die erhofften Fortschritte nicht rasch genug einstellten, lange stiefmütterlich behandelt wurden, blieben die Kanadier geduldig und förderten ihre Forscher großzügig weiter. Das zahlt sich jetzt aus.
Die Spitzenleute an den Universitäten in Toronto, Montreal oder Edmonton bildeten neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit eine ganze Generation von neuen Experten aus. Die können sich heute vor Jobangeboten von Google und Co kaum retten. Auch einige der kanadischen Pioniere auf dem Gebiet sind zwischenzeitlich von Facebook, Google, Twitter und Co abgeworben worden. Das hat die kanadische Regierung als Problem erkannt und beschlossen zu handeln.
Talent ist Trumpf
Es wurde viel Geld in die Hand genommen, um die besten Leute im Land zu halten. Mit wettbewerbsfähigen Gehältern als Anreiz wird jetzt ein Ökosystem aufgebaut, das es KI-Forschern erlauben soll, an den Themen zu arbeiten, die sie interessieren, mit dem besten Personal. Neben ausreichenden Mitteln für die Universitäten entstehen in Toronto und Montreal unabhängige Forschungszentren, an denen nicht nur kanadische Forscher gehalten werden, sondern auch Spitzenpersonal aus anderen Ländern rekrutiert wird. Allein die unabhängige Forschungseinrichtung “Vector Institute” in Toronto erhält von der Regierung 200 Millionen kanadische Dollar (132 Millionen Euro) für die nächsten fünf Jahre.
Das öffentliche Geld ist aber nur ein Teil des Konzepts. Fast alle Förderungen basieren auf öffentlich-privaten Partnerschaften. Damit wurde nicht nur die Investitionssumme vervielfacht, sondern auch ein Umfeld geschaffen, in dem das an den Forschungszentren erarbeitete Wissen mithilfe von Inkubatoren, Start-up-Förderungen und Mentorenprogrammen in wirtschaftliche Erfolge verwandelt werden soll. Hunderte jungen Unternehmen, die in den vergangenen zwei Jahren in diesem Umfeld entstanden sind, entwickeln KI-Systeme für verschiedenste Bereiche, von der automatisierten Kundensupport-Abwicklung über verbesserte Prothesensteuerung und gruselig effiziente Videoüberwachungsprogramme bis zu Software, die gefälschte Videos erkennen kann.
Attraktiv
Das Ökosystem ist mittlerweile so erfolgreich, dass die großen US-Konzerne praktisch ohne Ausnahme Forschungseinrichtungen in Kanada eingerichtet haben, von Google über Facebook bis Uber. Einige der besten Köpfe kommen nach Kanada und viele Fachleute, die das Land verlassen haben, kehren jetzt wieder zurück, erzählen Vertreter der lokalen Wirtschaft und der Universitäten. Einen guten Teil dieses Erfolgs führen die Kanadier auf die Offenheit und Vielfalt ihrer Gesellschaft zurück.
In Toronto liegt der Anteil der Einwohner, die ursprünglich nicht aus Kanada stammen, bei über 50 Prozent. Darauf ist man in Kanada stolz. “Der Erfolg beginnt immer mit den Menschen. Immigration führt zu Kreativität und Diversität und Investitionen folgen talentierten Leuten”, sagt Kanadas Handelsminister François-Philippe Champagne bei einem Gespräch mit der futurezone. Die Offenheit gegenüber qualifizierten Einwanderern und die daraus resultierende Diversität werden als Vorteil anerkannt, wobei Kanada in diesem Bereich aufgrund der geografischen Lage nicht mit so komplexen Herausforderungen konfrontiert ist wie etwa Europa.
Trump-Efekt
Dass Präsident Trumps restriktive Politik Kanada noch attraktiver macht - genau wie das Sozialsystem - wird hinter vorgehaltener Hand bestätigt. Sollte Amazons zweites Hauptquartier beispielsweise in Toronto statt in einer US-Stadt entstehen, würde sich der Konzern durch das staatliche Gesundheitssystem über zehn Jahre hinweg etwa 600 Millionen US-Dollar sparen, wie Vertreter der lokalen Verwaltung herausstreichen.
Viele Forscher in Kanada sagen auch, dass Kanada gegenüber den USA den Vorteil hat, dass es mehr Forschungsmöglichkeiten gibt, die unabhängig von Militär und Geheimdiensten sind. Trotzdem sagt der Minister, dass auch internationale Kooperation ein entscheidender Faktor für den Erfolg sei. Man konkurriere zwar mit anderen Ländern um Talente, sei aber bestrebt “den Kuchen zu vergrößern, statt sich um Stücke zu streiten”.
Schattenseiten
Der Boom in Sachen AI hat aber auch seine Schattenseiten. Während junge Forscher in den Innenstädten ein sorgloses Leben führen, ist Wohnen dort für viele Menschen nicht mehr erschwinglich. Ein Taxifahrer in Toronto mit iranischen Wurzeln sagt gegenüber der futurezone, dass er sich eine Wohnung in der Stadt niemals leisten könnte. Einer seiner Kollegen mit afghanischem Hintergrund sieht die Sache ähnlich. Er versucht, Geld für ein eigenes Restaurant zu sparen und wohnt etwa eine Autostunde außerhalb der Stadt. Die Politik hat das Problem zwar erkannt und ein Programm für leistbares Wohnen ins Leben gerufen, die Wirkung ist aber zumindest bislang eher bescheiden. “Wir haben entsprechende Programme ins Leben gerufen, um sicherzustellen, dass alle vom Fortschritt profitieren”, erklärt Minister Champagne.
Sollten die Prognosen der Experten im Bezug auf KI tatsächlich eintreffen, könnte das aber noch nicht das Ende der Probleme sein. “Künstliche Intelligenz wird einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft haben. Ich sehe ernsthafte Konsequenzen für den Arbeitsmarkt, die wohl schneller kommen, als wir reagieren können. Auch der Einsatz von KI durch Militär und Nachrichtendienste bereitet mir Sorgen. Die Regierung ist sich dieser Probleme aber zumindest bewusst”, sagt Yoshua Bengio. Hier könne auch eine Partnerschaft mit Europa von Bedeutung sein, sagt der Forscher: “Ich freue mich, dass auch in Europa Bewegung in den KI-Sektor kommt. Europa und Kanada vertreten dieselben Werte und können hier kooperieren.”
Bedingt vorbildhaft
Einen großen Beitrag zur Wirtschaftsleistung liefert KI auch in Kanada bisher noch nicht. Der KI-Cluster in Kanada ist trotzdem eine Erfolgsgeschichte. Lektionen für Europa lassen sich daraus aber nur bedingt ableiten. Kanada hatte das Glück, auf ein historisch gewachsene Strukturen in der Forschung in dem Bereich zurückgreifen zu können. Diese wurden durch viel Geld, eine offene Forschungs- und Immigrationspolitik, die Nähe zur IT-Macht USA im gemeinsamen Sprachraum sowie die rechtzeitige Reaktion auf den Fachkräfteabfluss gefördert.
Diese Entwicklung trägt jetzt Früchte. Europa hat gute Forscher, muss sich ein einheitliches Ökosystem in diesem Bereich aber erst erarbeiten. In anderen Bereichen könnte das kanadische Modell aber Vorbild sein. Für Österreich wäre hier etwa die Quantenforschung zu nennen. Hier gibt es historisch gewachsene Strukturen, die mit Mut zur Offenheit, Geld und Unternehmergeist zukunftsträchtige Früchte tragen können.
Hinweis: Die kanadische Regierung hat die Kosten für die Reise, auf der dieser Artikel basiert, übernommen.
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