Digital Life

"Wir werden von künstlicher Intelligenz enttäuscht sein"

"Wir befinden uns in der größten Revolution in der Wissensarbeit in der Geschichte der Menschheit", sagt Ian Beacraft. Als Chef-Futurist der Agentur Signal and Cipher verlangt es sein Jobprofil, die Zukunft in grellen Farben zu zeichnen. Bei der Sphere-Konferenz des Sicherheitsunternehmens With Secure, die Ende Mai in Helsinki stattfand, dozierte Beacraft über das Potenzial generativer künstlicher Intelligenz.

Die futurezone hat mit dem in Chicago lebenden Unternehmensberater über die Auswirkungen von KI auf den Arbeitsmarkt, Hype-Zyklen um neue Technologien und romantische Beziehungen mit synthetischen Wesen gesprochen.

futurezone: Sie vergleichen die Auswirkungen künstlicher Intelligenz mit jenen der industriellen Revolution. Ist das nicht etwas übertrieben?
Ian Beacraft: Die industrielle Revolution hat physische Arbeit mechanisiert und grundlegende Dinge in der Gesellschaft verändert. Wie wir arbeiten und welche Rolle Arbeit in unserem Leben spielt, war davon genauso betroffen wie die Art und Weise, wie wir leben und wie wir miteinander umgehen. Das ist nicht von heute auf morgen passiert, sondern hat Jahrzehnte gedauert. Künstliche Intelligenz digitalisiert Fähigkeiten. Was die industrielle Revolution für körperliche Arbeit getan hat, passiert nun mit geistiger Arbeit. Deshalb halte ich die Analogie für gerechtfertigt.

Ian Beacraft auf der Sphere-Konferenz

Glaubt man einschlägigen Prognosen, könnten die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt dramatisch sein. Wie kann das abgefedert werden?
Wir leben heute in einem System, in dem der Markt Veränderungen vorantreibt. Die Märkte wollen Effizienz. Es wird zu Entlassungen kommen. Das Ausmaß ist schwer abzuschätzen. Wir werden aber auch neue Formen sehen, wie Arbeit organisiert und verteilt wird. Es wird ein Auf und Ab sein und es wird wohl eine Weile dauern, bis sich neue soziale Normen herausbilden.

Die ersten Konflikte über den Einsatz von künstlicher Intelligenz in Arbeitsprozessen sehen wir bereits. Drehbuch-Autorinnen in Hollywood streiken und fordern Regeln für Einsatz von KI.
Sie wollen in einer Struktur, die versucht, so viel Effizienz wie möglich zu schaffen, ihre Relevanz und Macht behaupten. Vieles, was sie fordern, ist nachvollziehbar. Es geht um die Integration von künstlicher Intelligenz in Arbeitsabläufe. Wann es ok ist und wann nicht. Aufhalten wird sich die Technologie nicht lassen. Was bei diesen Diskussionen herauskommt, könnte richtungsweisend sein.

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Wie wird sich künstliche Intelligenz auf die Inhalte auswirken?
Filme sind schon heute zu einem großen Teil synthetische Medien, die mithilfe von Algorithmen erzeugt werden. Denken Sie an die vielen Spezialeffekte. Hollywood macht seit den 1980er-Jahren Deepfakes.

Das war aber sehr aufwendig und kostete Millionen. Heute verfügen Mobiltelefone über ähnliche Fähigkeiten.
Ich habe Freunde, die als Synchronsprecher*innen arbeiten. Ihnen wird bereits angeboten, ihre Stimmen zu lizenzieren. Das wird sich auf immer mehr Bereiche im Filmgeschäft ausweiten. Abbilder und Manierismen von Personen können problemlos mithilfe von künstlicher Intelligenz reproduziert werden. Es wird bald eigene Marktplätze dafür geben. Davon werden besonders bekannte Schauspieler*innen profitieren, für weniger bekannte steigt der Konkurrenzdruck.

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Sie sprechen auch davon, dass wir bald Beziehungen mit synthetischen Wesen eingehen werden. Wie weit wird das gehen?
Es wird Menschen geben, die romantische Beziehungen mit synthetischen Wesen solchen mit organischen Wesen vorziehen. Es gibt heute schon eine Epidemie der Einsamkeit in unserer Gesellschaft. Wenn synthetische Wesen uns Zuneigung und Unterstützung entgegenbringen, werden viele kaum noch mit Menschen interagieren wollen. Das wird sicher nicht die gesamte Gesellschaft betreffen, aber es ist in vielerlei Hinsicht gefährlich. Dadurch bekommt das Gefüge der Gemeinschaft Risse. Auf der anderen Seite können über solche synthetischen Beziehungen auch soziale Verhaltensweisen eingelernt und geübt werden. Wir sehen das in vielen Virtual-Reality-Anwendungen. Es wird wohl in beide Richtungen gehen.  

Dem Metaverse schreiben Sie großes Potenzial zu. Selbst Meta, das die virtuelle Realität am lautesten propagierte, fährt Investitionen zurück. Was sind die Hindernisse?
Das Metaverse muss nicht zwingend mit Virtual Reality oder VR-Brillen zu tun haben. Das ist nur eine Vision. Es geht um Überlagerung verschiedener Dimensionen. Wir werden uns im Handumdrehen zwischen eindimensional und dreidimensional bewegen können. Das kann am Handy genauso passieren, wie über Projektionen. Es werden auch noch andere Formfaktoren dazukommen. Ganz sicher ist keine isolierte virtuelle Welt, die von der Gesellschaft abgekapselt ist.   

Neue Technologien durchlaufen in der Regel einen Hype-Zyklus. Bei künstlicher Intelligenz befinden wir uns gerade an der Spitze, es gibt viele Erwartungen. Wann folgt die Ernüchterung?
Wir werden von künstlicher Intelligenz ganz sicher enttäuscht sein. Die Erwartungen sind sehr hoch. Sie können gar nicht erfüllt werden. Wenn immer mehr Menschen mit der Technologie interagieren, führt das zum einen dazu, dass die Angst davor schwindet. Zum anderen verschaffen sie sich ein Bild darüber, was mit der Technologie möglich ist. KI hat noch jede Menge Einschränkungen. Die Dinge sind komplizierter, als wir glauben und es wird noch einige Zeit dauern, bis KI ihr Potenzial entfalten kann. Im Unterschied zu anderen Hypes, etwa dem Metaverse oder Kryptowährungen, wird KI aber eine zentrale Infrastruktur für die Gesellschaft werden, genauso wie die Elektrizität. 

Künstliche Intelligenz im Hype-Zyklus

Dazu muss man der Technologie aber vertrauen können. Wie vertrauenswürdig sind die Systeme?
Vielen Modellen kann man heute sicherlich noch nicht vertrauen. Sie halluzinieren und wir müssen Möglichkeiten finden, die Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit zu gewährleisten. Da liegt noch viel Arbeit vor uns. Deshalb sind auch Diskussionen über Regulierung so wichtig. Wir brauchen diese Regeln jetzt und nicht erst in 6 Monaten oder gar Jahren.

Soziale Medien konnten nicht wirklich in den Griff bekommen werden. Warum sollte es jetzt klappen?
Wir haben in sozialen Medien massive Desinformationskampagnen und Manipulationen gesehen. Das müssen wir diesmal vermeiden. Wir dürfen generative künstliche Intelligenz nicht dem freien Markt überlassen, denn dann besteht die Gefahr, dass menschliche Werte auf der Strecke bleiben. Die Zukunft passiert uns nicht einfach so. Wir müssen gemeinsam unsere Stimme erheben und dafür sorgen, dass nicht die Technologie, sondern das, was Menschen damit machen, in den Mittelpunkt rückt.

Wie stehen die Chancen, dass das gelingt?
In einigen Fällen wird das sicherlich gelingen, in anderen werden wir massive Misserfolge sehen. Die Entwicklung schreitet in atemberaubender Geschwindigkeit voran und wird die Gesellschaft grundlegend verändern. Wir wissen, was auf dem Spiel steht.

Disclaimer: Die Kosten für die Reise zur Sphere-Konferenz nach Helsinki wurden von With Secure übernommen.

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Patrick Dax

pdax

Kommt aus dem Team der “alten” ORF-Futurezone. Beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Innovationen, Start-ups, Urheberrecht, Netzpolitik und Medien. Kinder und Tiere behandelt er gut.

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