Der Unverständlichkeits-Fetisch
Wer komplizierte Dinge sagt, mit langen Fremdwörtern und umständlichen Satzkonstruktionen, der muss unfassbar klug sein. Dieser Gedanke ist natürlich völlig falsch, aber er hat sich offenbar in unserer Kultur festgebohrt wie der Holzwurm im Dachstuhlgebälk.
Wenn man bewundert werden möchte, muss man sich möglichst unverständlich ausdrücken. Der wahre Intellektuelle galoppiert von Idee zu Idee, und wenn der Zuhörer bei einem wilden Gedankensprung abgeworfen wird, dann war er einfach nicht intelligent genug und sollte sich schämen. Am besten ist es, bei Vorträgen einfach durchgehend ehrfurchtsvoll zu nicken.
Niemand verlangt von einem Experten, sich einfacher auszudrücken, sonst müsste man ja zugeben, etwas nicht verstanden zu haben. Und der Experte will auf seine Fachsprache nicht verzichten, aus Angst, dann nicht mehr als echter Experte zu gelten.
Der Graben wird größer
So entwickelt sich ein Unverständlichkeits-Fetisch. Der Graben zwischen Wissenschaft und dem Rest der Welt wird immer größer – und das hat üble Folgen: Der selbsternannte Wunderheiler kann in recht einfachen Worten erklären, dass es gar keine Coronaviren gibt und COVID-19 nur eine dunkle Verschwörung feindlicher Reptilien-Aliens ist. Und auf manche Leute wirkt das dann nachvollziehbarer als die wissenschaftlich korrekten aber komplizierten Erklärungen des Virologen.
Nicht nur in der Wissenschaft haben wir dieses Problem: Auch Gesetzestexte werden oft so verworren formuliert, dass Leute ohne Spezialausbildung kaum eine Chance haben, ihren Sinn zu verstehen. Und da wundern wir uns über ein Aufflackern staatsfeindlicher Verschwörungstheorien? Den Befund des Radiologen muss man sich auch als gebildeter Mensch vom Hausarzt in verständliches Deutsch übersetzen lassen. Könnte es nicht zumindest eine allgemeinverständliche Kurzfassung geben, wenn nötig mit technischen Zusatzanmerkungen für Fachexperten?
Sprache als Statussymbol
Die Sprache wird zum intellektuellen Statussymbol. Der Neureiche protzt mit seinem Lamborghini, der Gebildete mit seinen Fachvokabeln. Das schadet uns in Wahrheit allen. Natürlich wird auch die beste Erklärung nicht von jedem perfekt verstanden. Selbstverständlich wird es immer so etwas wie eine Fachsprache geben, und manchmal kann man eine bestimmte inhaltliche Präzision nur dann erreichen, wenn man sich die nötigen Fachbegriffe dafür zurechtlegt. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, sich nicht zumindest um ein größtmögliches Maß an Verständlichkeit zu bemühen. Wenn wir Fake News bekämpfen wollen, müssen echte Fakten für jeden zugänglich sein.
Wir brauchen einen Kulturwandel: Sprache soll Menschen miteinander verbinden, nicht eine Gruppe durch Geheimcodes vom Rest der Bevölkerung abkapseln. Komplizierte Ausdrucksweise ist kein Zeichen von Intelligenz. Was man nicht verständlich erklären kann, das hat man selbst noch nicht richtig verstanden.
Zur Person
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen