Die Briefwahl-Verschwörungstheorie
„Das kann doch nur Betrug sein!“ Egal ob in Österreich, Deutschland oder in den USA – immer wieder brodelt nach den Wahlen wieder dieselbe Verschwörungstheorie hoch: Die Briefwahl-Ergebnisse unterscheiden sich deutlich von den Stimmen, die in der Wahlkabine abgegeben wurden. „Das muss doch bedeuten, dass die Briefwahl-Ergebnisse gefälscht wurden!“ Diese Behauptung ist falsch, eignet sich aber leider hervorragend dazu, das Vertrauen in die Demokratie zu untergraben.
Nach jeder Wahl treffen nach und nach die ausgezählten Ergebnisse ein: Typischerweise kommen zunächst die Ergebnisse kleinerer Gemeinden, die rasch ausgezählt sind, später die großen Städte, ganz am Ende erst die Stimmen, die per Briefwahl abgegeben wurden. Und immer wieder passiert es, dass sich das Ergebnis dabei dreht.
So geschah das etwa bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl 2016 – da lag Norbert Hofer voran, bis Alexander Van der Bellen an ihm vorbeizog. Auch bei der jüngsten Wahl in Brandenburg veränderten die Briefwahlstimmen das Gesamtergebnis deutlich – zum Nachteil der AfD. AfD-Chef Tino Chrupalla meinte daraufhin, das sei „mathematisch schwer zu erklären“.
Ähnliches konnte man 2020 bei der US-Präsidentschaftswahl beobachten: In Georgia, Michigan, Pennsylvania und Wisconsin war Donald Trump zunächst in Führung, nach Auszählung der Briefwahl-Stimmen gewann aber Joe Biden und wurde Präsident. Dass sich das Ergebnis auf diese Weise durch puren Zufall dreht, sei extrem unwahrscheinlich, argumentierte Trumps Team damals – die Rede war von einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Billiarde. Etwas derart Unwahrscheinliches wird in der Praxis nie eintreten, deshalb müsse es sich um Betrug handeln, wurde unterstellt.
Zufallsexperimente mit Glaskugeln
Dieses Argument wäre auch völlig richtig – wäre hier tatsächlich der pure Zufall am Werk. Stellen wir uns vor, wir haben eine riesengroße, gut durchgemischte Kiste mit Millionen roten und blauen Glaskugeln. Um herauszufinden, ob es mehr rote oder mehr blaue Kugeln gibt, müssen wir die Glaskugeln nicht unbedingt alle auswerten. Eine zufällige Stichprobe wird oft genügen.
Angenommen, wir ziehen zehntausend Kugeln und erhalten dabei 52 Prozent blaue und 48 Prozent rote. Das deutet darauf hin, dass die blauen Kugeln häufiger sind, aber theoretisch könnte es sein, dass wir nur durch puren Zufall erstaunlich viele blaue erwischt haben und sich dieser Trend noch umkehrt, wenn wir alle Kugeln auswerten.
In der Praxis wird das aber nicht passieren: Die Wahrscheinlichkeit, unter zehntausend zufällig gezogenen Kugeln mindestens 52 Prozent blaue zu finden, wenn die wahre Aufteilung 50-50 ist, liegt bei ungefähr 0,003 Prozent. Schon die ersten zehntausend Kugeln sollten uns ein beinahe korrektes Ergebnis liefern.
Menschen sind keine Zufallsmaschinen
Es stimmt also: Dass sich ein statistischer Trend abzeichnet und sich dann bei weiterer Auszählung noch umdreht, ist bei perfekten Zufallsereignissen höchst unwahrscheinlich – bei Wahlen beobachten wir das aber immer wieder. Das sollte aber niemanden verwundern, denn Menschen sind nun mal keine identischen Glaskugeln.
Nicht alle Bevölkerungsgruppen tendieren im selben Maß dazu, ihre Stimme per Briefwahl abzugeben. Briefwahlstimmen kommen oft von Leuten, die viel reisen, oder die sonntags arbeiten. Möglicherweise kommen sie eher von Personen, die sich besonders stark für Politik interessieren – schließlich haben sie freiwillig die zusätzliche Mühe auf sich genommen, eine Wahlkarte zu beantragen. Die Briefwahl-Bevölkerungsgruppe unterscheidet sich also vom Rest der Bevölkerung. Insofern ist es auch zu erwarten, dass sich diese Bevölkerungsgruppen auch in ihrem Wahlverhalten unterscheiden.
Weiterer Faktor
Dazu kommt noch ein weiterer Effekt: Trumps Republikaner, aber auch die FPÖ in Österreich oder die AfD in Deutschland haben sich immer wieder kritisch gegenüber der Briefwahl geäußert. Dass sich deren Wählerschicht daher statistisch eher seltener für eine Briefwahl entscheiden wird, ist naheliegend.
Solche Unterschiede sind keine mysteriöse Anomalie, die man statistisch erklären müsste, sondern ein ganz normaler Effekt, der zu erwarten ist. Genauso wählen schließlich auch Menschen in Städten anders als Menschen am Land, Männer anders als Frauen, alte anders als junge. Das würde auch niemand als „statistisch auffällig und somit verdächtig“ bezeichnen.
Das Skandalisieren von Briefwahlstimmen, bloß weil sie sich im Ergebnis von Wahlkabinenstimmen unterscheiden, ist somit nichts anderes als der Versuch, das Vertrauen in das Wahlergebnis zu schwächen – und das ist demokratiepolitisch ein sehr gefährliches Spiel.