Eine in Kiew ausgestellte Shahed-136
Russland bewaffnet jetzt Shahed-Drohnen mit Luft-Luft-Raketen
Die Ukraine hat zum ersten Mal eine besonders ungewöhnliche Variante einer Shahed-136 abgefangen. Die ursprünglich aus Iran stammende Kamikaze-Drohne, die Russland mittlerweile als Geran-2 selbst baut, war mit einer Luft-Luft-Rakete bewaffnet.
In dem Video ist zu sehen, wie die Shahed-136/Geran-2 von einer ukrainischen Drohne abgefangen wird. An der Oberseite der Shahed ist mittig eine einzelne R-60-Rakete montiert.
Dabei handelt es sich nicht um eine ausgeschlachtete Rakete, die auf die Shahed geschnallt wurde, um bei Kontakt mit dem Ziel zu explodieren. Trümmer der abgestürzten Drohne zeigen, dass die Rakete auf einer Startschiene montiert ist. Auch der Infrarot-Suchkopf und die übrige Elektronik und Komponenten sind vorhanden.
Leichte und kompakte Luft-Luft-Rakete aus dem Kalten Krieg
Die R-60 wurde in den späten 1960er-Jahren entwickelt. Ursprünglich war sie für die MiG-23 gedacht, die sowohl als Abfangjäger als auch als Jagdbomber eingesetzt wurde.
Mitte der 1970er-Jahre wurde die R-60 bei den russischen Luftstreitkräften eingeführt. Für die damalige Zeit war sie sehr klein und leicht. Sie ist 2 Meter lang und wiegt 43,5 kg. Auch für heutige Verhältnisse ist das sehr kompakt. Die deutsche Luft-Luft-Rakete Iris-T misst 2,9 Meter und wiegt 88 kg. Die amerikanische AIM-9 Sidewinder kommt auf 3 Meter und 85 kg.
Die kleine Größe hat den Nachteil, dass weniger Treibstoff an Bord ist. Unter idealen Bedingungen in hoher Flughöhe beträgt die Reichweite bis zu 8 km. Russischen Piloten wurde bei der Ausbildung gesagt, dass die praktische Einsatzreichweite eher bei 4 km liegt. Bei niedrigen Flughöhen sinkt die Reichweite weiter, auf etwa 1,5 bis 2 km.
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Der Vorteil der R-60 ist, dass sie wegen der kompakten Maße für viele Plattformen geeignet ist. Neben der MiG-Palette von der MiG-21 bis MiG-29, kam die R-60 etwa auch bei der Su-15 und Su-25 zum Einsatz, beim Kampfhubschrauber Mi-24 und beim L-39ZA, der bewaffneten Variante des tschechischen Ausbildungsflugzeugs Aero L-39 Albatros.
International bekannt wurde die R-60 durch einen Zwischenfall am 20. April 1978. Eine Su-15 feuerte 2 R-60 auf eine Boeing 707 ab, Korean Air Lines Flug 902, die sich im sowjetischen Luftraum befand. Eine Rakete verfehlte, die zweite traf und riss ein 4 Meter langes Stück vom linken Flügel ab. Die Maschine konnte notlanden, bei dem Vorfall starben 2 der 109 Menschen an Bord.
Zur Boden-Luft-Rakete umfunktioniert
Die R-60 gilt mittlerweile als veraltet. Russland hat sie ab Mitte der 1980er-Jahre durch die R-73 ersetzt. Diese wiegt 105 kg, ist 2,93 Meter lang und hat in der normalen Variante eine Reichweite von fast 30 km. In dieser Beziehung ist sie also ihren westlichen Gegenstücken überlegen.
Weil die R-60 aber in großer Stückzahl produziert wurde, befinden sich immer noch etliche davon in Russlands Arsenalen und denen von Ländern, die früher damit beliefert wurden. Einige davon wurden etwa zu Boden-Luft-Raketen zur Luftabwehr umfunktioniert. Jugoslawien montierte dazu Booster an die Raketen, um die Reichweite zu erhöhen, wenn sie vom Boden aus gestartet werden.
Die Huthi im Jemen verwenden die R-60 ebenfalls zur Luftabwehr. Die Konstruktionen sind oft improvisiert. So wurden etwa Pick-up-Trucks gesichtet, auf die Lafetten für den Start einer einzelnen R-60 montiert wurden.
Ein Pick-up-Truck mit R-60
© Huthi
Die Ukraine hat einige Kamikaze-Drohnenboote mit R-60s und R-73s bewaffnet. Das Ziel war, die Hubschrauber abzuschießen, mit denen Russland die ukrainischen Seedrohnen jagt. Im Dezember 2024 ist das erstmals gelungen. Mit Drohnenbooten wurden 2 Mi-8 mit R-73-Raketen abgeschossen.
Shahed-Jagd mit Propellermaschinen
Ähnliches wird vermutlich Russland mit den bewaffneten Shahed-136s vorhaben. Die reguläre Shahed ist mit einer Geschwindigkeit von bis zu 185 km/h eher gemütlich unterwegs. Dadurch ist sie ein leichtes Ziel für Hubschrauber, die mit Bordgeschützen oder mit dem seitlichen Maschinengewehr die Drohnen bekämpfen. Die Ukraine nutzt sogar alte Propellermaschinen, bei denen ein Soldat am Rücksitz die Drohnen mit dem Sturmgewehr abschießt.
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Die fliegende Shahed-Abwehr ist also ebenfalls langsam unterwegs und noch dazu nahe dran. Die Hubschrauber und Propellermaschinen könnten also mit der R-60 abgeschossen werden, obwohl diese eine geringe Reichweite hat.
Shahed-136 ist nicht für Dogfights gemacht
Allerdings müssen Hubschrauber, Flugzeug oder Abfangdrohne erst ins Visier der Rakete kommen. Der Infrarot-Suchkopf der R-60 hat ein Blickfeld von 24 Grad in der normalen Variante und 34 Grad in der neueren Version R-60M. Das heißt, das Zielobjekt muss sich in einem eher engen Trichter vor der Shahed-Drohne befinden, damit die Rakete dieses erfassen kann.
Wenn Hubschrauber oder Flugzeuge Shahed-Drohnen jagen, machen sie das aber von hinten oder der Seite – von vorne wäre die Gefahr einer Kollision zu hoch. Also müsste die bewaffnete Shahed-136 den Hubschrauber oder das Flugzeug ins Visier bekommen, bevor sich dieses zum Abfangen in Stellung bringt, oder manövrieren.
Die Drohne ist aber weder auf Geschwindigkeit noch Agilität ausgelegt, sondern um möglichst lange zu fliegen (bis zu 2.500 km). Ein Dogfight mit einer Shahed ist also eher unwahrscheinlich.
Begleitschutz oder Abschreckwaffe
Das lässt vermuten, dass Russland die R-60-Shahed als Begleitschutz mitfliegen lassen könnte, versetzt hinter einer Welle von normalen Shahed-136s. Die ukrainischen Verteidiger setzen sich zum Abfangen hinter die normalen Shahed-136s und die R-60-Shahed setzt sich wiederum hinter diese, um sie abzuschießen.
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Es ist auch denkbar, dass Russland so versucht, eine Falle zu legen. Es könnten absichtlich Shahed-136s in ein Gebiet gesteuert werden, indem bekanntermaßen ukrainische Hubschrauber oder Flugzeuge patrouillieren. Wenn diese zum Abfangen auftauchen, kommen die leicht versetzt gestarteten R-60 Shaheds zum Einsatz, um diese abzuschießen. Dies erfordert aber sehr gutes Timing und setzt voraus, dass die ukrainischen Truppen den Plan nicht durchschauen.
Die Limitationen der bewaffneten Shahed werfen zudem den Verdacht auf, dass es sich hier primär um eine Abschreckwaffe handelt. Allein die Möglichkeit, dass eine Shahed-136 mit einer R-60 bewaffnet ist, könnte die Verteidiger 2-mal überlegen lassen, ob man weiterhin Hubschrauber oder Flugzeuge einsetzt. Die Abwehr müsste dann mit teureren Lenkwaffen erfolgen, die eigentlich für russische Marschflugkörper aufgespart werden. Und wenn die Ukraine mehr von dieser Munition verschießt, hat sie später weniger, um Marschflugkörper abzufangen, die kritische Infrastruktur anvisieren.
Ukraine nutzt spezielle Abfang-Drohnen
Ob dieser Plan wirklich aufgeht, ist fraglich. Denn die Ukraine setzt seit ein paar Monaten verstärkt auf spezielle Abfang-Drohnen, um Shaheds abzuwehren. Auch die R-60-Shahed wurde mit so einer abgefangen. Dabei kam die Sting zum Einsatz. Die in der Ukraine entwickelte Abfang-Drohne soll lediglich 2.500 US-Dollar kosten, während Russlands Shahed-Drohnen laut Analysten mindestens 30.000 US-Dollar pro Stück kosten.
Sting (links) im Größenvergleich mit einer Shahed-Drohne
© Wild Hornets
Sting kann laut Angaben des Herstellers 315 km/h schnell fliegen, mit Potenzial nach oben. Die hohe Geschwindigkeit ist nötig, weil Russland verstärkt auf die Shahed-238 setzt, die in Eigenproduktion Geran-3 genannt wird.
Diese hat mit etwa 1.000 km zwar weniger Reichweite, ist mit bis zu 370 km/h aber doppelt so schnell. Auch die Shahed-238 wurde bereits mit Sting zerstört.
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