In der Stadt ist das Corona-Infektionsrisiko nicht größer
In Städten leben Menschen dichter aneinandergedrängt und deshalb muss die Verbreitung des Coronavirus dort doch schneller ablaufen, oder? Mit dieser landläufigen Meinung, die auch in der politischen Diskussion auftrat, wollen Stadt- und Mobilitätsforscher der TU Wien aufräumen.
Sie haben Infektionsdaten auf Gemeindeebene seit Beginn der Corona-Krise analysiert und 4 bestehenden Raumtypen zugeordnet: Urbane Zentren (z.B. Wien, Graz, Linz), regionale Zentren (Zwettl, Liezen, Völkermarkt), ländlicher Raum im Umland von Zentren (Gerasdorf, Engerwitzdorf, Koppl) und ländlicher Raum (Mariazell, Admont, Bad Gastein).
Fallzahlenverlauf
Wie sich zeigt, stehen Siedlungsdichte und die Zahl an Neuinfektionen nicht in einem positiven Zusammenhang. Man kann also nicht sagen, dass Städte tendenziell größere COVID-19-Herde sind oder das Risiko, sich zu infizieren, in Städten größer ist. Im Verlauf der Pandemie zeigt sich, dass sich die urbanen Zentren bei positiven Tests je 100.000 Einwohner im Schnitt auf relativ niedrigem Niveau bewegen.
Zu Beginn des 1. und 2. Lockdowns lagen die Fallzahlen unter jenen der 3 anderen Raumtypen. Nur während des Sommers lag das Niveau etwas darüber. Im August und September gingen die Fallzahlen schneller nach oben als am Land. Von Mitte Oktober bis Anfang November haben die Zahlen in den regionalen Zentren und ländlichen Räumen jedoch stark zugelegt und jene von urbanen Zentren übertroffen. Bis in den Jänner hinein hatten die großen Städte den geringsten Wert aufzuweisen.
Ursachen unklar
"Wir können nun zeigen, dass die Infektionsgefahr nicht steigt, weil man in einer Stadt lebt", sagt Robert Kalasek, einer der beteiligten Forscher, im Gespräch mit der futurezone. Genau zu sagen, wie die Unterschiede beim Infektionsgeschehen zwischen Stadt und Land zustande kommen, sei allerdings äußerst schwierig. "Mit der Datenbasis, die wir haben, geht das nicht." Es sei zwar schon möglich, den Ursachen auf die Spur zu kommen, aber nur mit enormem Aufwand und mehr Daten - etwa jenen, mit denen Mobilfunkanbieter Bewegungsmuster analysieren.
Während der Pandemie habe sich gezeigt, dass Ursache und Wirkung in der öffentlichen Diskussion gerne verwechselt werden. Kalasek gibt dazu folgendes Beispiel: "In einer Schule stecken sich Schüler leichter gegenseitig an, aber irgendjemand hat das Virus da erst hinein gebracht. In den Daten sieht man dann nur, dass das Infektionsgeschehen in einer Gemeinde mit Schule höher ist als in einer Gemeinde ohne Schule. Dabei ist die Schule möglicherweise nicht Ursache dafür, dort manifestiert sich das Infektionsgeschehen einfach, weil Schüler zusammenkommen."
Vergleichbarkeit
"Ein großer Fehler in der anfänglichen Kommunikation zur Corona-Krise war das Verwenden von absoluten Fallzahlen", sagt Kalaseks Kollege Florian Pühringer. Da habe sich möglicherweise ein Vorurteil gegenüber Städten bei der Bevölkerung eingebrannt. Der Übergang zum Wert der 7-Tage-Inzidenz sei sinnvoll gewesen. "Dadurch kann man Wien mit Orten wie Tamsweg vergleichen." Um ihre Erkenntnisse zu den regionalen Unterschieden im Infektionsgeschehen deutlich zu machen, haben die TU-Forscher ein Video erstellt. Darin sieht man farblich abgestuft, wie sich Infektionsherde im Zeitverlauf wo in Österreich gebildet haben.
Punktuelle Hotspots
Absichtlich habe man sich dabei nicht an Verwaltungsgrenzen orientiert. Das erzeuge oft ein falsches Bild. "Wenn man ganze Gemeinden dunkel einfärbt, bekommt jeder Panik. Dabei sind die eigentlichen Herde oft einzelne größere, dicht besiedelte Ortschaften wie Ischgl", sagt Kalasek. Dass solche Infektionsherde auf der animierten Karte im Video oft in Tälern auftreten, ist auffällig. "Siedlungen bestehen in alpinen Räumen nun mal zu fast 100 Prozent in Talllagen - und aus unserer Sicht geht es um die Siedlungen. Nur dort findet das Infektionsgeschehen statt."
Dass es am Land oft zu höheren Fallzahlen an einzelnen Punkten komme, liege vermutlich an sozialen Gepflogenheiten, meint Kalasek. "Wenn es eine starke Verwurzelung in der örtlichen Kultur gibt, eine Gewohnheit, sich zu treffen oder am Vereinsleben teilzunehmen, wenn das seit Jahrzehnten Standard ist, kann man das schwieriger herunterfahren. In einer Gemeinde nahe Wien, wo drei Viertel der Bevölkerung erst in den vergangenen 30 Jahren dazugekommen sind, ist die Kontakthäufigkeit vielleicht nicht so hoch. Aber das sind Vermutungen und wie will man die stichhaltig belegen?"
Mehr Kooperation
Für die weitere Erforschung von unterschiedlichen regionalen Entwicklungen der Coronakrise wünschen sich die Forscher mehr Kooperation. "Wir brauchen mehr Daten. Alles, was erhoben wird, sollte öffentlich verfügbar sein und auf dem aktuellsten Stand gehalten werden. Natürlich mit gutem Datenschutz, aber Datenschutz wird oft als Ausrede verwendet, um Daten nicht preiszugeben." Kalasek ergänzt: "Man muss ein bisschen mehr Mut haben und größere Dynamik bei begleitender Forschung erzeugen." Die Erkenntnisse daraus könnten nur Gutes bringen, etwa veränderte Strategien bei der COVID-19-Bekämpfung oder eine veränderte Wahrnehmung in der Bevölkerung.