Science

Forschende kritisieren Umgang mit Gesundheitsdaten als "nicht zeitgemäß"

Die Gruppe um die beiden österreichischen Komplexitätsforscher Stefan Thurner und Peter Klimek spricht sich konkret für eine unabhängige nationale Medizindatenstelle aus. Ihre demokratische und zivilgesellschaftliche Verankerung und Kontrolle soll dabei die Datennutzung ausschließlich zum Wohle der Bevölkerung sicherstellen.

Hochrangige Forscher*innen wollen Änderungen

Im Zuge der Corona-Pandemie seien digitale Schwachstellen offenkundig geworden, so die Initiative um Thurner und Klimek, die beiden an der Medizinischen Universität Wien und dem Complexity Science Hub (CSH) Vienna tätig sind. "Datenqualität, Datenflüsse, Vollständigkeit, Geschwindigkeit, Verfügbarkeit und Verwendbarkeit von Daten sind nicht mehr zeitgemäß", heißt es in dem Aufruf, dem sich Expert*innen aus einer Vielzahl von Institutionen angeschlossen haben. Darunter sind mehrere österreichische Universitäten, die Gesundheit Österreich GmbH, die Patientenanwaltschaft, die Bioethikkommission, der Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF), das Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), das Institut für Höhere Studien (IHS) oder das Austrian Institute of Technology (AIT).

Als ein zentrales Problem ortet die Initiative die Existenz von "Datensilos", wodurch eine Individuen-basierte Vernetzung von bestehenden Datensätzen fehle. Das führe dazu, dass in Österreich eine Reihe von zentralen medizinischen Fragen nicht beantwortet werden kann. Weitere Probleme orten die Wissenschafter*innen im viel zu langsamen und intransparenten Ablauf vieler digitaler Prozesse, der mangelnden Datenqualität oder den unterschiedlichen Cyber- und Kryptostandards zur Sicherung personenbezogener Medizindaten bei den verschiedenen Stellen.

Daten sind auf unterschiedliche Quellen verteilt

Eine Ursache für die Probleme sehen die Wissenschafter*innen in der Verteilung der Daten auf Sozialversicherungen, Ministerien, Statistik Austria, Länder, Krankenanstalten, etc., wo sie in verschiedenen Graden der Qualität und Vollständigkeit existieren. Für die Institutionen gebe es weder Anreize, Daten zu teilen bzw. gemeinsam zu halten, noch gebe es Personalressourcen für ihre optimale vernetzte Nutzung. Als Vorwand würden datenschutzrechtliche Bedenken genannt, doch "die durchaus rigide europäische Datenschutzgrundverordnung würde vielfach wesentlich mehr Möglichkeiten zur sinnvollen und sicheren Datennutzung zulassen, wie zahlreiche europäische Beispiele zeigen".
Um eine Harmonisierung der Datenflüsse transparent, sicher und zeitgemäß umzusetzen, wird eine neue unabhängige nationale Medizindatenstelle vorgeschlagen, die "demokratisch und zivilgesellschaftlich breit verankert und kontrolliert ist". Krankenanstalten, Ärzte, Apotheken, Pflegeeinrichtungen, Impfstellen, etc. sollten regelmäßig oder anlassbezogen in diese Stelle direkt über gesetzlich definierte und sichere Schnittstellen ihre Daten einmelden. Die Datennutzung dürfe ausschließlich gemäß gesetzlich definierter Zugriffsrechte stattfinden, und ein umfassender Datenschutz müsse garantiert sein.

Forscher*innen bemängeln, dass dadurch, dass die Daten nicht an einer Stelle gespeichert werden, Analysen schwierig durchzuführen sind.

Anonymisierte und pseudonymisierte Datensätze

Dem Vorschlag zufolge soll - mit wenigen Ausnahmen wie für Abrechnungszwecke - ausschließlich anonymisiert bzw. pseudonymisiert gearbeitet werden. Auch andere medizinische Register sollten in der Medizindatenstelle zusammengeführt werden. Weil nationale Gesundheitsdaten von derart zentraler und übergeordneter Relevanz seien, sollte keine der derzeit existierenden Institutionen alleine die Kontrolle darüber haben, heißt es in dem Papier.

"Es muss jedenfalls eine unabhängige, nicht Interessen-geleitete Stelle sein, von einem breiten, demokratisch legitimierten Gremium geleitet, das die Datennutzung ausschließlich zum Wohle der Bevölkerung sicherstellt. Dieses Board entscheidet über die Datenverwendung all jener, die medizinische Daten in Österreich brauchen, von den Versicherungen bis zur Forschung", erklärte Thurner gegenüber der APA. Wer wann mit den Daten zu welchem Zweck arbeitet, müsse exakt dokumentiert werden. Besonders wichtig sei, dass "die Daten unter Hochsicherheitsbedingungen gespeichert, verarbeitet und weitergeleitet werden, mit Systemen, die Missbrauch, Datenleaks und Cyberattacken minimieren", so Thurner.

Minimalinvasive, pandemische Kontrolle

"Der absolute Kontrollverlust im Pandemiemanagement im vergangenen Herbst hat deutlich vor Augen geführt, dass wir die Balance zwischen Datenschutz und sinnvoller Datennutzung zum Gemeinwohl neu evaluieren müssen", sagte Klimek. Die Wissenschafter*innen schlagen stattdessen die Datennutzung für eine "minimalinvasive pandemische Kontrolle" vor. Eine solche "logistische Kontrolle" funktioniere mit einem Bündel an Maßnahmen, die ein schnelles Isolieren von Infizierten ermöglichen. Durch die Nutzung harmonisierter Daten im Pandemiefall könnten viele Fragen evidenzbasiert eingeschätzt werden. Dazu zählt etwa die Erhebung des Infektionsrisikos einzelner Berufsgruppen oder von Faktoren, die den Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischen Status und Infektionsrisiko treiben.

Die Expert*innen verweisen zudem auf die "Epidemie von chronischen Erkrankungen" wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen, Übergewicht, etc., die Österreich in den nächsten Jahrzehnten erfassen werde. Auch aus diesem Grund müssten "daten- und evidenzbasierte Strategien verfolgt werden, um ein kosteneffektiveres und resilienteres Gesundheitssystem zu ermöglichen".

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