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"Tell Me Why" im Test: So trügerisch können Erinnerungen sein

Emotionale Erzählungen stehen bei Spielen des französischen Entwicklerstudios Dontnod Entertainment immer an oberster Stelle. Das haben sie mit ihrem Erfolgshit „Life ist Strange“ eindrucksvoll bewiesen. Ihr neues Spiel, „Tell Me Why“ rückt spielerische Elemente weiter in den Hintergrund, zugunsten einer mitreißenden und bedrückenden Geschichte. Das ist gut gelungen.

Die Zwillinge Tyler und Alyson treffen das erste Mal seit 10 Jahren wieder aufeinander. Als Kinder waren sie unzertrennlich, bis eine Tragödie sie auseinander riss. In der Gegenwart holt Alyson ihren Bruder Tyler aus einer Institution für Jugendstraftäter ab, in der er als Kind geschickt wurde. Damals hatte Tyler noch den Körper eines Mädchens, nun ist er zu einem Mann herangewachsen. Gemeinsam fahren sie in ihr Elternhaus tief in den Wäldern Alaskas. Dort angekommen zeigt sich die übernatürliche Verbindung der Geschwister: Sie können telepathisch kommunizieren und Erinnerungen teilen.

Diese spielen sich schemenhaft vor ihnen ab. So sehen sie etwa, wie die Mutter ihnen kleine Holzspielzeuge schnitzt, weil nicht genug Geld da ist, um welches zu kaufen. Während Tyler und Alyson beginnen, das Haus auszuräumen, erfahren wir, was vor 10 Jahren passiert ist: Tyler hat in Notwehr seine Mutter erstochen, als sie mit einer Schrotflinte auf ihn losgegangen ist. Die Vermutung der beiden Kinder ist, dass sie Tyler nicht so akzeptieren konnte, wie er ist.

Welche Erinnerung ist richtig?

So scheint es zumindest. Denn „Tell Me Why“ zeigt in seinen 3 Episoden von jeweils 2,5 Stunden Länge sehr eindringlich, wie trügerisch Erinnerungen sein können. Die Zwillinge sind sich nicht immer einig, wer von beiden sich richtig erinnert. So wissen sie beispielsweise noch, dass es einen Streit gab, sind aber uneinig, wer der Aggressor war. Es liegt dann am Spieler zu bestimmen, welcher Erinnerung man folgt.

Dabei gibt es kein richtig und falsch und das führt manchmal zu Momenten, die auf den ersten Blick unbefriedigend wirken können. „War das denn wirklich so, oder vielleicht ganz anders?“, fragt man sich mehr als nur einmal. Und genau das ist er Kern des Spiels. Der Spieler muss sich für eine Version der Geschichte entscheiden und mit dieser auch Leben. An anderen Stellen kann man tiefer graben, oder die Vergangenheit ruhen lassen. Dabei riskiert man immer, dass diese Entscheidungen positive oder negative Auswirkungen auf Beziehungen und Psyche der Charaktere haben.

Menschliche Abgründe

Verglichen mit Dotnods früheren Spielen ist „Tell Me Why“ mehr visuelle Erzählung mit interaktiven Elementen als Spiel. Ich steuere abwechselnd Tyler und Alison durch die Geschichte und kann Entscheidungen treffen, die die Beziehung zu anderen Charakteren beeinflussen. So ist es möglich, dass man in Gesprächen mehr darüber erfährt, was damals mit der Mutter passiert ist und was sie so weit getrieben hat, mit einer Waffe auf ihre Kinder los zu gehen.

Wählt man die falschen Gesprächsoptionen, bleiben die Charaktere verschlossen. Das will man natürlich vermeiden, denn „Tell Me Why“ ist vor allem ein Krimi mit vielen Wendungen und menschlichen Abgründen. So finden die Zwillinge heraus, dass vor 10 Jahren nicht jeder in ihrem Umfeld akzeptieren konnte, dass Tyler kein Mädchen ist - und der Vorschlag fiel, die Mutter solle ihn doch in ein "Camp" schicken, das ihn "heilen" soll. Vor der Kulisse eines beschaulichen Dörfchens im Süden Alaskas, inklusive Wale und Seeadler, erfährt man Stück für Stück die tragische Familiengeschichte der beiden Zwillinge.

Das Herzstück des Spiels ist das Verweben von Märchengeschichten, die die Mutter für die Kinder geschrieben hat, in die Gesamtgeschichte. So zieht man die Erzählung immer wieder für das Lösen von Rätseln heran. Diese sind nicht sonderlich schwer, aber sehr befriedigend designt. Sie sind nicht nur Mittel zum Zweck, um den Spielern eine Beschäftigung zu geben, sondern sie treiben immer die Geschichte voran. Nach jedem Rätsel hat man neue Informationen über Charaktere und Geschichte gelernt und das ist leider keine Selbstverständlichkeit in Spielen.

Gelungene Repräsentation

Tyler ist der erste Transgender-Charakter in einem großen Videospiel und man kann ein bisschen froh sein, dass es Dontnod waren, die diese Figur geschrieben haben. Man kommt ohne großes Drama aus, ohne übertriebene Anfeindungen oder überzogene Reaktionen. Tyler hat bereits die schwierigen Teile der Hormontherapie abgeschlossen. Wer ihn nicht als kleines Kind kannte, würde gar nicht merken, dass er weibliche Geschlechtsorgane besitzt.

Auch wenn seine Identität ein wichtiger Teil der Geschichte ist, ist sie nicht das zentrale Thema. Damit schafft es Dontnod das Thema glaubhaft zu behandeln, ohne in Klischees zu verfallen. Dafür hat man mit GLAAD (Gay and Lesbian Alliance Against Defamation) zusammengearbeitet und bietet auf der "Tell Me Why"-Webseite ein FAQ, das die wichtigsten Fragen zur Repräsentation von Transgender-Menschen beantwortet. Der englische Sprecher von Tyler, August Aiden Black, ist zudem selbst ein Transgender-Mann.

Ähnlich viel Mühe floss in die Darstellung indigener Gemeinden der Tinglit. Auch hier hat man darauf verzichtet, mit dem Holzhammer vorzugehen, sondern schafft vielmehr Präsenz, etwa durch traditionelle Kunstwerke, die überall im Spiel zu sehen sind. Tatsächlich hätte ich mir stellenweise gewünscht, noch tiefer in die Kultur der Tinglit einzutauchen.

Fazit

Obwohl die 3 Episoden, kurz gehalten wurden, gibt es viele Momente der Ruhe, etwa beim Eisfischen oder beim Durchsuchen des Elternhauses. Hier zeigt sich einmal mehr Dontnods Händchen fürs Geschichtenerzählen, denn viel Entscheidungen – etwa ob man einer Person verzeiht oder ob man ihr Verhalten nicht entschuldigen kann, hängen davon ab, wie stark man sich in Tyler und Alyson hineinversetzen kann. Sie wirken wie echte Personen und es war für mich ein gutes Zeichen, dass ich bei den meisten Entscheidungen den Controller weglegen und erstmal überlegen musste. Die Entwickler kauen einem nicht vor, wie man sich zu verhalten hat, ob man wütend oder besonnen reagiert – beide Entscheidungen wirken legitim.

Entgegen vieler Kritikerstimmen hat mich die angestaubte Grafik nicht gestört. Im Gegenteil hat mir die Gestaltung der Märchengeschichten besonders gut gefallen und die schöne Landschaft hat mir Lust darauf gemacht, irgendwann einmal Alaska zu besuchen. Wenn eine Gesichtsanimation mal nicht perfekt war, haben die talentierten englischen und deutschen Sprecher das problemlos abgefangen.  

Ich hätte mir gewünscht, man hätte sich noch eine Episode lang Zeit genommen, um mehr Nebenstränge zu erzählen. Doch man bleibt nah an der Hauptgeschichte. Das verfällt stellenweise in einen spannenden aber nicht sonderlich innovativen „Whodunit“-Krimi, dessen voraussehbares Ende aber deutlich weniger Interessant ist als die Frage, wie man eine tragischen Vergangenheit bewältigt und mit schmerzhaften Erinnerungen umgeht. Das macht „Tell Me Why“ zu einer emotionalen Reise, die nachhallt und über die man auch nach dem Ausschalten der Konsole noch grübelt.

Die ersten beiden Episoden sind bereits für Xbox One und Windows erschienen, die 3. und letzte Episode erscheint am 10. September. Sie sind im Microsoft Store oder über Steam für insgesamt 29,99 Euro verfügbar und im Xbox Game Pass enthalten. Für den Test wurde uns ein Review-Code von Microsoft zur Verfügung gestellt. 

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Franziska Bechtold

frau_grete

Liebt virtuelle Spielewelten, Gadgets, Wissenschaft und den Weltraum. Solange sie nicht selbst ins Weltall kann, flüchtet sie eben in Science Fiction.

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