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Meinung

Rohmilch: Ein gefährlicher Trend

Mit Hygiene am Bauernhof haben Bakterien in der Rohmilch wenig zu tun, auch in sauberen, gut geführten Betrieben kann das passieren

Eigentlich ist das Problem längst gelöst: Milch kann allerlei Krankheitserreger enthalten, aber wenn man sie für einige Sekunden auf über 72°C erhitzt, dann sterben die Krankheitserreger ab: Die Milch kann bedenkenlos getrunken werden.

Nach dem französischen Wissenschaftler Louis Pasteur wird diese Technik als „Pasteurisieren“ bezeichnet, sie setzte sich Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr durch, das dürfte auch ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, dass die Kindersterblichkeit in dieser Zeit stark zurückging.

Man könnte sagen: Genau so soll Wissenschaft funktionieren. Man erkennt ein Problem, man entwickelt eine Lösung, am Ende ist allen geholfen. Danke Wissenschaft! Doch ganz so einfach ist es nicht.

Allen medizinischen Ratschlägen zum Trotz gibt es in den vergangenen Jahren plötzlich wieder einen Trend zum Rohmilchtrinken. Politische Initiativen in den USA bringen Pasteurisierungs-Vorschriften zu Fall, alternative Gesundheits-Webseiten und Social-Media-Ernährungs-Influencer*innen entdecken auch in Europa eine merkwürdige Liebe zu hygienisch fragwürdigen Rohmilchprodukten.

Gefährliche Bakterien

Dabei ist die Faktenlage recht klar: Unpasteurisierte Milch, die man zu Beispiel direkt ab Hof gekauft hat, sollte man abkochen. Bei Test in Deutschland wurden verschiedene Krankheitserreger jeweils in einigen Prozent der untersuchten Rohmilchproben nachgewiesen – etwa Listerien, Campylobacter oder STEC, lauter Bakterien, die Durchfall verursachen können. Das ist nicht unbedingt schlimm, aber besonders für Schwangere, für Kinder oder geschwächte Personen kann das durchaus gefährlich werden.

Mit Hygiene am Bauernhof hat das im Übrigen wenig zu tun, auch in sauberen, gut geführten Betrieben kann das passieren. Gesundheitsbehörden und Forschungsstellen – von der US-amerikanischen FDA über das deutsche Robert-Koch-Institut bis zur österreichischen AGES – weisen ausdrücklich auf die Gefahren von Rohmilch hin.

Im März 2024 wurde in den USA eine weitere beunruhigende Entdeckung gemacht: Man fand H5N1, das Vogelgrippe-Virus, in Kühen – und zwar ausgerechnet im Euter. In Rohmilchproben konnte das Virus nachgewiesen werden. Also noch ein guter Grund, Wert auf ordentliche Pasteurisierung zu legen, könnte man meinen.

Interessanterweise scheint genau dadurch ein Trend in die entgegengesetzte Richtung ausgelöst worden zu sein: Die Rohmilch-Verkäufe in den USA stiegen an, manche Leute wollen genau deswegen jetzt Rohmilch trinken, weil sie (völlig ohne jede Faktengrundlage) glauben, dadurch immun gegen Vogelgrippe zu werden. In sozialen Medien wird für Rohmilch geworben, das Immunsystem soll damit angeregt und gestärkt werden, heißt es dort.

Ideologie statt Fakten

Um wissenschaftliche Diskussionen geht es dabei längst nicht mehr. Die Rohmilch-Debatte scheint – wie so vieles in diesen Tagen – zu einer weltanschaulich-ideologischen Kontroverse geworden zu sein.

Einerseits haben wir es wieder einmal mit dem Mythos der Natürlichkeit zu tun: Man erklärt alles „Naturbelassene“ für gut, jeden menschlichen Eingriff für schlecht – und übersieht dabei, dass zur natürlichen, unverdorbenen Welt vergangener Zeiten, die man sich hier schönredet, unzählige Krankheiten, unnötige Leidenswege, abwendbare Todesfälle gehört haben, die wir heute (dank menschlicher Eingriffe) besiegt haben.

Andererseits scheint dahinter auch eine beunruhigende Ablehnung von Personen und Institutionen zu stecken, die man als „elitär“ ansieht: Wie erdreistet sich die Gesundheitsbehörde, mir vorzuschreiben, welche Milch ich trinken soll! Meine Urgroßmutter hat die Milch auch direkt aus der Melkkanne getrunken! Wenn ein Forschungsinstitut das Pasteurisieren vorschreiben will, ist das doch eine Einschränkung meiner Freiheit!

Ein seltsamer Individualismus wird hier spürbar: Man bastelt sich seine eigene kleine Wahrheit zusammen – nach dem Motto „ich weiß doch selbst am besten, was gut ist für mich!“. Anstatt sich darüber zu freuen, dass wir heute auf einen reichen Schatz an wissenschaftlichen Fakten zugreifen können, und uns gerade in Gesundheitsfragen auf gesicherte Erkenntnisse verlassen können, glaubt man das, was man halt gerade glauben möchte: Das Tik-Tok-Video, das ins ideologische Muster passt, setzt sich gegen das renommierte Forschungsinstitut durch.

Das mag sich kurzfristig gut anfühlen. Aber es hilft halt nicht gegen Listerien-Durchfall. Was bleibt ist der Grundsatz: Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung – aber nicht auf seine eigenen Fakten.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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