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Gastkommentar

Kippt das Klima!

Domino-Effekte müssen nicht immer schlecht sein - selbst, wenn sie in Zusammenhang mit der Klimakrise stehen

Der Begriff „Kipp-Punkte“ hat es in Zusammenhang mit der Klimakrise zu trauriger Bekanntheit geschafft: Die Prognosen für das Eintreten der unumkehrbaren Ereignisse, die eine Klima-Kettenreaktion auslösen würden, müssen von Wissenschaftler*innen in einer rasanten Dynamik laufend nach unten korrigiert werden.

Das vermeintlich ewige Eis schmilzt, der Golfstrom schwächelt massiv, die tropischen Korallenriffe sterben und man weiß nicht, ob sich die Ökosysteme der großen Regenwälder angesichts der massiven Zerstörung noch regenerieren können. Aber wo Schatten ist, muss auch Licht sein: Das Konzept der Kipp-Punkte gilt nicht nur für eine Negativspirale, sondern es gibt auch solche Auslöser, die eine ebenso schwer umkehrbare Reaktion für den Fortschritt beschleunigen und die Klimawende in Gang setzen können.

Kleiner Auslöser - große Revolution

Bahnbrechende Systemveränderungen durch vermeintlich kleine Ereignisse hat die Menschheit in der Vergangenheit schon mehrmals erlebt: Die Entwicklung des Ackerbaus, die Erfindung des Rads, der Buchdruck, die industrielle Revolution, um nur einige Beispiele zu nennen. Ob der dadurch ausgelöste tiefgreifende gesellschaftliche Wandel dabei jeweils gewollte Intention oder unbeabsichtigte Folge war, ist unklar. Vermutlich eine Mischung aus beidem. Wenn man jedoch analysiert, wie diese Auslöser und ihre Rückkoppelung in ein ganzes System funktionieren, so kann man diese Mechanismen gezielt nutzen, um positive Kipp-Punkte ausfindig zu machen und mit voller Absicht einen dringend notwendigen Dominoeffekt anstoßen: Den unumkehrbaren nachhaltigen Systemwandel gegen die Klimakrise.

Die Klimakrise ist hochgradig komplex. Wir Menschen sind jedoch grundsätzlich so angelegt, dass wir Komplexität reduzieren wollen, sogar müssen, um Entscheidungen zu treffen. Dazu, vor jeder Entscheidung rational alle Faktoren abzuwägen, hat unser Gehirn gar nicht die Zeit, deshalb nimmt es Abkürzungen. Damit die Klimakrise, ihre Ursachen und ihre Auswirkungen nicht mehr lähmend wirken, brauchen wir eine Komplexitätsreduktion. Politik muss es den Menschen möglichst einfach machen, klimafreundliche Entscheidungen zu treffen. Das ist auch das Ziel einer kürzlich in der Fachzeitschrift Global Sustainability veröffentlichten Analyse zu positiven Klima-Kipp-Punkten.

Rezepte für Kipp-Punkte

Auf der COP26 im Dezember haben die Staaten in der sogenannten „Breakthrough Agenda“ ihr Bekenntnis festgehalten, solche positiven Kipp-Punkte gezielt herbeiführen zu wollen. Nun hat ein Team aus Forscher*innen der Universität Hamburg und des University College London ein „Rezept“ dazu verfasst, wie man diese entscheidenden Auslöser ausfindig machen und aktivieren kann. Sie zeigen anhand von Beispielen, wie die Nutzung von Kipp-Punkten die notwendigen Veränderungen, etwa in den Bereichen Energie, Ernährung oder Plastik, herbeiführen kann.

Die Studie untersucht Theorien zur sozialen Ansteckung oder kritischen Masse und kombiniert sie mit dem Wissen, wie beispielsweise öffentliche Investitionen oder geänderte politische Rahmenbedingungen den Wandel gefördert haben. Frühe Subventionen und Massenproduktion ließen die Kosten für Solar- und Windenergie schnell sinken, sodass sie in weiten Teilen der Welt die billigste Energiequelle sind. Steuererleichterungen in Norwegen haben dazu geführt, dass bereits 65% der Neuwagen elektrisch sind.

Die Forscher*innen betonen auch soziale Faktoren: So könne man mit der Installation von Solarzellen auf den Dächern von kleinen Gruppen eine ganze Gemeinde „anstecken“, oder den Erfolg des Hybrid Toyota Prius in den 90ern darauf zurückführen, dass Hollywood-Größen ihr Umweltbewusstsein darüber zur Schau getragen hatten. Mittlerweile hat Toyota den Promi-Faktor auch umgekehrt erfahren: Stars riefen vergangenen Sommer sogar zum Boykott auf, nachdem der Auto-Hersteller sich gegen Emissions-Vorgaben querstellte. In der enormen Aufstockung der Supermarktregale mit Fleischersatzprodukten sehen die Forscher*innen ebenfalls ein Indiz, dass im Bereich der pflanzlichen Ernährung ein solcher Kipp-Punkt erreicht ist. Dabei bleibt natürlich zu hinterfragen, ob man durch hochverarbeitete industrielle Lebensmittel in den Händen weniger großer Hersteller nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreibt.

Ein Mittel gegen Ohnmacht

Tim Lenton, Hauptautor der Studie, bezeichnet positive Kipp-Punkte als „einzigen Weg, um den globalen Zielen bei wichtigen Themen wie Kohlenstoffemissionen und biologischer Vielfalt näher kommen zu können.“ Betrachtet man die jahrzehntelangen Blockaden gegen nachhaltige Lösungen, die nun der Reihe nach aufbrechen, so hat er damit vermutlich recht. Die Hebel, die wir jetzt brauchen, müssen im Turbogang die Versäumnisse der Vergangenheit wettmachen. Ohne dramatische Beschleunigung des Wandels verlieren wir das Wettrennen mit der Zeit. Aber das Konzept der positiven Kipp-Punkte bietet einen neuen Hoffnungsschimmer gegen das manchmal überwältigende Ohnmachtsgefühl angesichts der Klima-Auswirkungen.

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Tina Wirnsberger

Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.

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