© Vessyl / Screenshot / YouTube

Peter Glaser: Zukunftsreich

Schöner Trinken

In dem Film „Der Hofnarr“ von 1955 spielt Danny Kaye einen Ritter, der sich duellieren soll. In einen der zwei Becher, mit denen die Kombattanten vor dem Kampf anstoßen sollen, hat eine Hexe eine Giftpille getan. Dann versucht sie, dem etwas fahrigen Ritter einzubläuen, in welchem der Becher das Gift schwimmt: „Der Wein mit der Pille ist im Becher mit dem Fächer, der Pokal mit dem Portal hat den Wein gut und rein.“ Nicht einfach.

Und es wird noch komplizierter, denn kurz darauf zerbricht der Pokal mit dem Portal und wird durch „einen Kelch mit einem Elch“ ersetzt. Die neue Eselsbrücke „Der Wein mit der Pille ist im Kelch mit dem Elch. Der Becher mit dem Fächer hat den Wein gut und rein“ bekommt auch ein Spion des Gegners mit, aber nicht einmal er ist in der Lage, sich zu merken, was nun wo drin ist.

Hätte es damals schon Vessyl gegeben, den Becher, „der weiß, was in ihm ist“, wäre uns wohl eine unsterbliche Dialogstrecke der Filmgeschichte vorenthalten geblieben. Vielleicht ist es ganz gut, dass die Zukunft des Trinkens aus Bechern erst jetzt da ist.

Eine enthauptete Thermoskanne

Vessyl, genauer gesagt: Pryme Vessyl, ist das erste Konsumprodukt von Mark One, einem Startup aus San Francisco, dessen Erzeugnisse „informieren und inspirieren wollen, in Echtzeit gesundheitsbewusstere Entscheidungen treffen zu können.“ Health Tech ist im Anmarsch.

Der für einen Europäer übergroß anmutende Becher, eher eine Art enthauptete Thermoskanne, verfügt über Sensoren, die angeblich nicht nur Volumen, Schüttverhalten und Viskosität (Limo? Joghurt? Smoothie?) erkennen können, sondern sogar die Getränkemarke, sofern sie sich in der bechereigenen Datenbank findet. Gesundheitsbewusstere Entscheidungen treffen hieße dann etwa, angezeigt zu bekommen, wie vielen Würfeln Zucker der Süßegehalt in dem Energy-Drink entspricht, den man sich gerade eingegossen hat — und ihn in Echtzeit wegzuschütten.

Komplexe Maschinenintelligenz für Banalitäten

Aber nein, so weit geht niemand in dem stimmungsvollen PR-Video für das Gefäß. Man sieht einen jungen Mann, der dem intelligenten Behälter versonnen zunickt, nachdem ihm dieser gerade in Leuchtschrift angezeigt hat, dass es Bier ist, was er sich da gerade eingegossen hat. BEER leuchtet es Buchstabe für Buchstabe an der Becherseite auf, man sieht förmlich die komplexe Maschinenintelligenz arbeiten, und „Hey! Hey!“, singt die Musik im Hintergrund dazu. Hey, hey, denkt man sich, der Mann kann lesen. Ich meine: das kann nicht jeder und schon gar nicht jeder hat einen Becher, mit dem er das in Echtzeit beweisen kann.

Immerhin kann jetzt jedermann quasi im Vorbeigehen Flüssigkeitsanalysen durchführen, für die früher teils ganze Geheimdienstabteilungen in Bewegung gesetzt werden mussten. Man braucht nun gar nicht mehr überwacht zu werden und kann sich stattdessen selbst überwachen.

Geheime Körperanalysen

Schon vor ein paar Jahren fiel jemandem bei NBC News auf, dass die CIA gute Ärzte sucht. Versteckt auf den hinteren Seiten des Journal of the American Medical Association fanden sich Stellenanzeigen für „medizinische Analysten“, die ihre Fähigkeiten darauf richten sollen, „die körperliche Gesundheit ausländischer Politikern und Terroristen zu bewerten.“

Der Job des medizinischen Analysten ist nicht neu, er geht auf den Kalten Krieg zurück. Die Gesundheit von politischen Führungspersonen wird seit Jahrzehnten überwacht. In seinem Buch „The Wizards of Langley“ beschreibt der amerikanische Geheimdiensthistoriker Jeffrey T. Richelson unter anderem, welche Anstrengungen die CIA bei einem USA-Besuch des ehemaligen Sowjetführers Nikita Chruschtschow unternahm - so wurden die Abwasserleitungen der sowjetischen Botschaft in New York angezapft, um in den Besitz des Urins des Parteisekretärs zu gelangen.

Entweder schön oder funktionell

Wie die Sensorik des Wunderbechers funktioniert, der immerhin 99 Dollar kostet, möchte Firmenchef Justin Lee nicht sagen. Mit seiner erdbeerroten Designerbrille gibt er stattdessen ein wortloses Statement ab, was seine Gestaltungsentschlossenheit betrifft. So ist der innen mit einem speziellen Glas beschichtete Plastikbecher nicht einfach rund, sondern seine Außenrundung durch dünne Längsstreifen facettiert. Das ergibt, wenn man es in einem Studio vor dunklem Hintergrund subtil ausleuchtet, einen trennscharfen Graustufeneffekt. Weniger subtil ausgeleuchtet, sieht der Becher in der Hand einfach aus wie ein Becher in einer Hand. Es gibt ihn in drei Farben (weiß, lichtgrau und dunkelgrau) und die Trinklippe um den Deckel herum sowie die Deckel selbst jeweils in acht Farben, kurz gesagt: das Produkt lässt sich „personalisieren“.

Dem Gestaltungsaufwand ist offenbar ein Teil der Funktionalität des besonderen Bechers zum Opfer gefallen. Nutzer beklagen, dass sie für umgerechnet gut 90 Euro ein schickes Objekt mit zerbrechlicher Glasbeschichtung und einen undichten Deckel erhalten haben.

Einen Hinweis auf die mangelnde pädagogische Durchschlagskraft des Trinktrackers geben hunderttausende von Fitnessgerätschaften für zu Hause, die unter Betten und in Garagen verstauben und neuerdings Fitness-Wearables, die, wie ihre potentiellen Träger, einfach nur herumliegen. Neu an Vessyl ist, dass die Geräte einen jetzt auch noch mit Banalitäten belästigen: Man gießt ein Trinkjoghurt in einen Becher und er zeigt als Ergebnis seiner Berechnungen an, dass man sich gerade ein Trinkjoghurt eingegossen hat.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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