Ladecase und die Kopfhörer

Ladecase und die Kopfhörer

© Gregor Gruber

Produkte

Poly Voyager Free 60+ UC im Test: In-Ears mit Touchscreen

Das Besondere an den Wireless In-Ears: Das Ladecase hat einen Touchscreen

Die Marke Poly kennt man, wenn überhaupt, wegen Headsets. Nicht die coolen VR-Headsets, sondern Telefon-Headsets für den Arbeitsplatz.

Mit der Produktreihe Voyager Free 60 gibt es auch In-Ear-Kopfhörer. Das Spitzenmodell davon ist das Free 60+ UC (315 Euro bei Amazon). Ich habe getestet, ob die nur Business sind oder ob sie auch Party können.

„Daumen hoch von der IT-Abteilung“

Beim ersten Eindruck gibt es Spießer-Alarm. Auf der Website des Herstellers werden die In-Ears als „der beste Arbeitspartner“ für „effiziente Meetings, fokussiertes Arbeiten und entspannte Freizeit“ angepriesen.

Das Anti-Killer-Argument, zumindest für jemanden der keinen Anzugs-Arbeitsplatz hat: „Ihre IT-Abteilung wird ebenfalls zufrieden sein, da es für die Arbeit mit den neuesten Meeting-Plattformen zertifiziert ist“ und „Daumen hoch von der IT-Abteilung“. Mein Wille 315 Euro (!) für In-Ears zu zahlen, um meine IT-Abteilung glücklich zu machen, hält sich in Grenzen.

Großes Ladecase mit Mehrwert

Hat man diesen ersten „Business-First“-Schock überwunden, kommt der zweite: das Ladecase. Verglichen mit anderen aktuellen In-Ears ist es sehr groß. Immerhin ist es kleiner als das der Bragi The Dash. Allerdings sind die 2015 auf den Markt gekommen und waren die ersten kommerziellen True Wireless In-Ear-Kopfhörer.

Von links nach rechts: Bragi The Dash Pro, Sony WF-1000XM4, Poly Voyager Free 60+ UC

Der Grund für das große Case ist der Touchscreen, der eingebaut ist. Der zeigt den aktuellen Status an und erlaubt einige Funktionen zu steuern. Etwas enttäuschend ist, dass der Touchscreen nur ein Quadrat in der Mitte des Ladecase ist und nicht mal in der Vertikalen bis zu den Rändern reicht. Vom Feeling erinnert das an frühe Smartwatches, bei denen die Displays in breite Gehäuse gefasst waren.

Das Ladecase lässt sich etwas zu einfach öffnen. Im Rucksack oder einer großen Tasche sollte man es in ein kleines Seitenfach geben, um zu verhindern, dass es aufgeht und die Kopfhörer herausfallen.

Kontaktfreudig per Dongle und Kabel

Immerhin wird die Größe des Cases auch sinnvoll genutzt. Im Inneren ist ein USB-A-Bluetooth-Dongle. Der ist bereits gepaart mit den In-Ears. Der Dongle im Case ist eine großartige Idee. So kann man immer die Kopfhörer Wireless nutzen, auch bei PCs, Macs oder Arbeitsrechnern, die kein Bluetooth haben – oder bei denen Bluetooth von der „zufriedenen“ IT-Abteilung gesperrt wurde.

Falls sogar die USB-Ports gesperrt sind, oder es gar keine gibt, können die Free 60+ UC trotzdem Wireless genutzt werden. Im Lieferumfang ist ein USB-C-zu-3,5mm-Klinkekabel enthalten. Damit kann man das Ladecase an einen üblichen 3,5mm-Klinkenanschluss anstecken. Das dient dann als Wireless-Transmitter zu den Kopfhörern.

Das funktioniert nicht nur am PC, sondern auch im Flugzeug, mit der Nintendo Switch, den Spielecontrollern von Xbox One/Series, PS4 und PS5, usw. Für das Kabel gibt es keinen Platz im oder am Case: Das muss man also bewusst einpacken, wenn man die Free 60+ UC mit potenziell Bluetooth- und USB-A-losen Geräten nutzen will.

Lieferumfang der Free 60+ UC. Die Kopfhörer gibt es auch in Weiß.

Bluetooth mit 2 Quellen gleichzeitig

Die In-Ears können mit 2 Bluetooth-Quellen gleichzeitig verbunden sein, wovon eines auch der Dongle sein kann. Der Wechsel zwischen Notebook bzw. Windows PC mit Dongle und Smartphone funktioniert automatisch. Gibt man gerade Inhalte am PC wieder und das Telefon läutet, wird automatisch zum Handy gewechselt.

Nicht ganz so flüssig läuft es, wenn man Musik am Smartphone wiedergibt, z.B. per Spotify, und ein Video am PC öffnet. Hier pausiert das Video automatisch nach etwa 2 Sekunden und Ton hört man keinen. Die PC-Wiedergabe wird erst möglich, wenn man Spotify am Smartphone pausiert. Schade, dass das nicht vollautomatisch funktioniert.

Komfort ok, Design meh

Die In-Ears selbst sehen ein bisschen wie in der Hitze deformierte Airpods aus. Man setzt sie gerade ein und dreht sie nach vorne. Das Mikrofon ist dann Richtung Mund gerichtet, was die Übertragung verbessert, aber ästhetisch ein wenig wirkt, als hätte sich jemand Fake-Airpods gekauft und wüsste nicht, wie man sie richtig trägt.

Übrigens: In der Anleitung wird korrekt gezeigt, dass das Mikrofon in einer gedachten Linie zum Mund ausgerichtet sein sollte. In den offiziellen Werbebildern, die auf der Website zu sehen sind, werden die In-Ears aber weniger stark nach vorne gedreht getragen. Das Mikrofon ist hier eher an der Kinnspitze orientiert oder sogar darunter. Funktioniert schlechter, sieht aber auf Fotos besser aus.

Winkel der Free 60+ UC

Das Drehen nach vorne ist nämlich nicht nur für das Mikrofon gedacht, sondern erhöht auch den Halt im Ohr. Trägt man die In-Ears so wie in den Werbebildern, sitzen sie lockerer im Ohr. Das verschlechtert die aktive Geräuschunterdrückung (ANC) und den Klang, weil erst die Drehung nach vorne „dicht“ macht.

Falls man keinen Wert auf ANC und guten Klang legt (wozu dann 315 Euro für In-Ears ausgeben? Ach ja, um die IT-Abteilung glücklich zu machen), kann man sie locker tragen. Das ist dann auch bequemer. Korrekt nach vorne gedreht spüre ich die Free 60+ UC merkbar in den Ohren. Es ist zwar nicht schmerzhaft, einen ganzen Langstreckenflug würde ich so nicht verbringen wollen.

Zur Anpassung sind Silikonstöpsel in 3 Größen enthalten. Die kleinen sind für mich bequemer als die normal großen, wobei ich bei In-Ears üblicherweise „Medium“ trage. Allerdings dichten die kleinen weniger stark den Gehörgang ab, was zum Leistungsverlust bei ANC und Klang führt.

Bedienung am Ohr

Die In-Ears haben eine gut positionierte Taste. Diese pausiert/startet die Wiedergabe und dient zum Abheben und Auflegen. Länger drücken öffnet Siri bzw. den Google Assistent. Eine Belegung für mehrmaliges Drücken (z.B. 2x drücken für den nächsten Song) gibt es nicht.

An der Oberseite ist ein Touch-Sensor, erfühlbar durch das andere Material. Dieser dient primär dazu, die Lautstärke zu ändern. Der Sensor reagiert aber nicht immer und die Wischbewegung endet meistens damit, dass man ungewollt das Ohr berührt.

Bedienung am Ladecase-Display

Will man zum nächsten Song springen oder zurück, muss man das Smartphone bemühen – oder das Ladecase. Neben Lautstärke und vor- und zurück können noch ANC und die Transparency eingeschaltet werden – also ob man will, das Außengeräusche durchgeschleust werden. Ansonsten sieht man noch die verbleibende Akkulaufzeit als Balken (leider nicht als geschätzte Restlaufzeit) und die derzeit verbundenen Geräte.

Das Display reagiert etwas träge nach den Eingaben, sie werden aber meistens korrekt erkannt. Abgesehen davon, ist es eine verpasste Chance. Es gibt keine Widgets oder Plugins. Ich sehe nicht den aktuellen Song am Display. Man kann auch keine Soundprofil-Einstellungen vornehmen.

Der einzige Mehrwert ist, dass man schneller zu den ANC- und Transparency-Einstellungen kommt, als wenn man die Poly Lens Begleit-App am Handy öffnet und dort dazu in die Untermenüs navigieren muss. Allerdings muss man dafür das Case auch griffbereit haben. Weil es relativ dick ist, passt es womöglich nicht bequem in jede Hosentasche.

Verwendet man das Case als Wireless Transmitter, macht die Kontrolle über das Display etwas mehr Sinn. Hier ist das Case vermutlich eher in Griffweite als das Smartphone und man kann die Lautstärke unabhängig von der Ausgabelautstärke des verbundenen Geräts steuern. Verwendet man die In-Ears mit PC oder Notebook macht die Bedienung per Case am wenigsten Sinn, da man in den meisten Fällen ohnehin die Hand an der Maus oder dem Touchpad hat.

Features und Akkulaufzeit

Gemessen an dem Preis, sind die restlichen Features eher karg ausgefallen. Es gibt eine Trageerkennung, die die Wiedergabe pausiert, wenn man die Kopfhörer aus dem Ohr nimmt. Das funktioniert, aber nur mit 2 Sekunden Verzögerung. Sprechen, damit der Song automatisch pausiert und in den Transparency-Mode geschaltet wird, gibt es nicht. Einen Equalizer gibt es auch nicht, nur 3 wählbare Klangprofile. Ebenfalls fehlend: Einstellungsprofile, wie „Arbeit“, „Unterwegs“ oder „Zuhause“, sowie ein Low-Latency-Modus für Spiele und Unterstützung für den LDAC-Codec.

Bei gemischter Nutzung mit Telefonie/Sprachchats hält der Akku laut Hersteller 5,5 Stunden, bei reiner Wiedergabe mit ANC bis zu 8 Stunden. Anhand meiner Erfahrung sind 4,5 Stunden bei Mischnutzung und 6 bis 6,5 Stunden bei reiner Wiedergabe realistisch. Das Ladecase bietet Energie für 2 weitere volle Ladungen. Unter Alltagsbedienungen wären das zusätzliche 9 Stunden bei Mischnutzung und etwa 13 Stunden bei reiner Wiedergabe.

Aufgeladen wird das Ladecase per USB-C-Anschluss. Das kabellose Laden ist mit Qi-Wireless-kompatiblen Geräten möglich.

Überraschend guter Klang

Obwohl die In-Ears sehr auf Business-Kund*innen abzielen, geht ordentlich Party damit. Der Klang ist kräftig mit einem markanten Bass, ohne die Details in Songs zu überdecken.

Da gilt allerdings nur, wenn man ausreichend große Silikon-Ohrstöpsel nutzt und die In-Ears in den richtigen Winkel gedreht sind. Ansonsten ist zu wenig Druck dahinter und der Sound ist merkbar schwächer und höchsten durchschnittlich gut. Sitzt alles richtig, gibt es fetten Sound, der auch in höheren Lautstärken nicht an Qualität verliert.

3 Soundprofile statt echten Equalizer

Das standardmäßige Soundprofil „Tiefen“ funktioniert nicht nur für die meisten Musikrichtungen, sondern auch für actiongeladene Games und Filme sehr gut. Für Hörbücher, TED-Talks oder ruhigere Filme, kann man in der App das Profil „Höhen“ wählen. Für die meisten Songs tut das leider nichts Gutes, selbst wenn man den Gesang bewusst verstärken will. Die Höhen klingen oft zu spitz, bei höheren Lautstärken ist das unangenehm.

Das dritte wählbare Soundprofil ist „Mitten“. Das ist am ehesten der Versuch eines neutralen Soundprofils. Hier fehlt es aber an Klarheit. An den Referenzklang, den ähnlich bepreiste Kopfhörer anderer Hersteller bieten, kommt das nicht heran. „Mitten“ klingt eigentlich nur fad, ohne Vorteile zu bieten.

➤ Mehr lesen: Sony WF-1000XM4 im Test: Die besten Kopfhörer mit furchtbaren Namen

Gute Sprachübertragung

Für Telefonie, Voice- und Videochats kann man ruhig „Tiefen“ lassen, es wirkt sich nicht negativ aus. Die eigene Stimme wird klar und deutlich übertragen.

Neben- und Hintergrundgeräusche werden gut ausgeblendet. Auch Wind ist nur wenig zu hören, wenn man draußen unterwegs ist. Manchmal wirkt die übertragene Stimme ein wenig zu weit weg, wenn man nicht bewusst laut und deutlich spricht.

Aktive Geräuschunterdrückung nur mäßig effektiv

So überraschend gut der Klang, so überraschend ernüchternd ist das ANC. Egal ob man es auf „Adaptiv“ oder „Standard“ einstellt: Es ist gerade mal durchschnittlich. Wie bei deutlich günstigeren In-Ears werden fast nur niedrige Frequenzen gefiltert, wie Zug- und Flugzeuggeräusche.

Im Büroalltag hilft das nicht besonders viel. Stimmen und Telefonate der Mitarbeiter*innen werden nur sehr wenig akustisch unterdrückt. Auch das Hämmern von Kolleg*innen in die Tastatur, die ihre Artikel anscheinend wutentbrannt tippen oder mit dem Keyboard eine Rechnung offen haben, wird nur wenig gedämpft. Das können die Kopfhörer von Sony und anderen Herstellern deutlich besser.

Der Transparency-Modus erfüllt seinen Zweck, klingt aber stark unnatürlich. Hier hat man die Wahl den Fokus auf Stimmen zu legen. Dadurch werden Stimmen tatsächlich hörbarer als im regulären Modus, aber auch die klingen eher unnatürlich. Deshalb lieber die In-Ears aus den Ohren, wenn man mit Menschen Face-to-Face redet – ist auch höflicher.

Fazit

Sollte man die Poly Voyager Free 60+ UC kaufen? Nein. Sollte man sie sich vom Arbeitgeber kaufen lassen? Ja! Poly (zuvor Plantronics, seit 2022 Tochterfirma von HP) richtet sich traditionell an Geschäftskund*innen und wenn diese spendabel sind, kann man sich als Angestellte*r glücklich schätzen, die Free 60+ UC als Arbeitsgerät zu bekommen.

Aus Endkund*innensicht ist der hohe Preis aber nicht gerechtfertigt. Das Display im Case wirkt zu sehr wie ein erster Versuch – wie etwas, dass noch mindestens eine Generation braucht, um sinnvoll zu sein. Dem sehr guten Klang steht das mäßige ANC gegenüber. Und für die hohe Konnektivität, per Bluetooth, Dongle oder 3,5mm Klinke, muss man auf einige Features verzichten, die in diesem Preissegment eigentlich Standard sind. Für 80 bis 100 Euro weniger wären die Free 60+ UC ein schönes Gesamtpaket, für 315 Euro fehlt die Raffinesse.

Warum wir Partnerlinks einsetzen

Unsere Artikel entstehen in redaktioneller Unabhängigkeit. Die futurezone kann aber eine Provision erhalten, wenn ihr über einen der verlinkten Shops etwas kauft. Was das bedeutet, erfahrt ihr hier.

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Gregor Gruber

Testet am liebsten Videospiele und Hardware, vom Kopfhörer über Smartphones und Kameras bis zum 8K-TV.

mehr lesen
Gregor Gruber

Kommentare