Anti-Flynn-Effekt: Warum unser IQ sinkt
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Zwischen 1909 und 2013 ist der Intelligenzquotient der Allgemeinbevölkerung um 30 Punkte gestiegen. Bessere Ernährung, Bildung, medizinische Versorgung und Umwelteinflüsse haben laut Forschern einen sogenannten „Flynn Effekt“ begünstigt. Seit Mitte der 1980er und Anfang der 1990er-Jahre nimmt die Intelligenzleistung, besonders im europäischen Raum, jedoch wieder ab. Neuere Beobachtungen deuten sogar auf eine globale Verlangsamung und möglicherweise bevorstehende Stagnation oder sogar Umkehr des Flynn Effekts hin.
"Balancierteres" Wissen
Grundsätzlich lässt sich der Anti-Flynn-Effekt mit Veränderungen von spezifischen und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten erklären. Allgemeinwissen ist wie auch Lese- und Rechtschreibfähigkeiten, mathematische Fähigkeiten oder Raumvorstellung eine spezielle Form von Intelligenz. Während sich die größten Zuwächse zwischen 1909 und 2013 im Bereich der Logik um 37 Punkte beobachten ließen, stiegen sie bei konkretem Wissen hingegen nur gering, um 21,41 Punkte. In Europa sind es mit knapp 18 noch weniger (siehe Grafik). Das bedeutet, dass Menschen nach den Tests besser und schneller geworden sind, abstrakte Muster zu erkennen, sich räumlich zu orientieren und eine Entscheidungsauswahl zu treffen, Vokabular, Arithmetik oder allgemeines Wissen sind jedoch schwächer ausgeprägt. „Während spezielle, einzelne Fähigkeiten stärker gefördert werden, nehmen andere nicht den gleichen Raum in Anspruch wie früher. Wir haben vor 100 Jahren scheinbar balanciertere Fähigkeiten gehabt, also von allen Formen. Heutzutage ist es wichtiger, in einzelnen Facetten besonders hohe Fähigkeiten zu besitzen“, erklärt Jakob Pietschnig, Intelligenzforscher an der Universität Wien, der futurezone.
Digitalisierung und Denken
Häufig werden Technik und Digitalisierung mit dem Wandel der menschlichen Intelligenz in Verbindung gebracht. „Hierzu höre ich immer zwei komplett unterschiedliche Meinungen. Einerseits die kulturoptimistische Sicht: Durch Computer, Handy oder Digitalisierung werden wir intelligenter, weil unser schlussfolgerndes Denken trainiert wird. Und andererseits die kulturpessimistische Sicht: Wir müssen uns aufgrund von Computern nichts mehr merken. Die Rolle der Technik ist aber unentschieden“, sagt er. Studienergebnisse würden (und können) sich alle zwei Jahre widersprechen. „Digitalisierung kann daher beide Effekte haben, aber es ändern sich die Umweltanforderungen und die Fertigkeiten, wie wir mit der Umwelt umgehen“, ergänzt der Experte. Das könne dazu führen, dass sich Testwerte ändern und wir gewisse Fähigkeiten nicht mehr haben und durch adäquatere ersetzen.
Laut Trendforscher Reinhold Popp vom Institute for Futures Research in Human Sciences an der Sigmund Freud-Privatuniversität müsste bei der Definition von „Intelligenz“ die heute weitverbreitete Arbeitsteilung zwischen der menschlichen und der künstlichen Intelligenz stärker berücksichtigt werden. „Ob man die hoch spezialisierten Leistungen von digitalisierten Maschinen als ,Intelligenz’ bezeichnen kann und soll, ist jedoch bekanntlich umstritten.“ Unsere digitalisierten Lebensbegleiter seien beim Speichern und Verknüpfen von gigantischen Datenmengen deutlich besser als der Mensch – die Leistungsfähigkeit dieser Servicemaschinen wird laut Popp zukünftig weiterwachsen.
Speicherung von Wissen auslagern
„Im Vergleich mit diesem sehr eingeschränkten Leistungsspektrum ist die menschliche Intelligenz ein hoch komplexes biochemisch-emotional-soziales Gesamtkunstwerk. In der gesamten Geschichte des Homo sapiens haben Menschen ihre Kompetenzen durch die Entwicklung und Nutzung von Maschinen erheblich verbessert. Deshalb ist es sinnvoll und nützlich, dass wir nun die Speicherung von Wissen und die Durchführung von Rechenoperationen an unsere digitalisierten Dienstleister auslagern“, sagt der Trendforscher. Damit könne sich der Mensch mehr auf jene Leistungen konzentrieren, die auch der beste Computer niemals beherrschen würde: das Verstehen, Planen und kreative Gestalten von komplexen Zusammenhängen im Zusammenspiel mit rationaler Analyse, sozialer Empathie und ethisch fundierten Werturteilen. Diese Entwicklungen verändere unsere Intelligenz.
Dabei handelt es sich laut Popp daher vielmehr um einen Umbau unseres Intelligenzprofils und nicht um einen Abbau der Intelligenz. Und er bietet einen Lichtblick: „Wenn man die von uns kontinuierlich genutzten Leistungen unserer „intelligenten“ Maschinen mitberücksichtigt, und die Entwicklung unserer emotionalen und sozialen Kompetenz einbezieht, würde die menschliche Intelligenz zukünftig wahrscheinlich weiterwachsen.“
Migration als Hinweis
Neben der Digitalisierung wurden in wissenschaftlichen Kreisen in jüngster Zeit auch Migrationsströme für das Ende des IQ-Höhenflugs verantwortlich gemacht. Pietschnig: „Diese Hypothese wurde auf theoretischer Basis dargebracht, ohne empirische Überprüfung.“ Er und seine Kollegen Martin Voracek und Georg Gittler wollten diesen Behauptungen auf den Grund gehen und haben Faktoren wie Asylwerber, Nettomigration und absolute Migration analysiert, um die Testleistung in einem Land, insbesondere Österreich, vorherzusagen. „Fazit ist: es kommt nie eine Verknüpfung zur Migration heraus. An dieser Hypothese ist also nichts dran“, sagt er. Das liege alleine schon daran, dass Stichproben, die den Flynn-Effekt untersuchen, Migration gar nicht betreffen. „Wenn jemand aufgrund von Konflikten oder Krieg rasch in ein anderes Land abwandern muss, wird es außerdem nicht sein erster Schritt sein, einen Test zur Intelligenzleistung zu machen“, so der Experte.
Einfluss von Hitze auf Denkvermögen
Fast jährlich erscheint eine neue Studie, die besagt, dass Hitze unser Denkvermögen vermindert. Unter anderem haben Umweltmediziner der Harvard Chan School die morgendliche Reaktionsschnelligkeit von gesunden Studenten vor, während und nach einer Hitzewelle in Boston untersucht. Das Ergebnis: Das Gehirn leidet bei zu hohen Temperaturen – der Mensch hat das Gefühl, nicht so viel leisten zu können, wie er eigentlich sollte. Was laut den Forschern hinzukommt, sind Schlafmangel, das Unterbrechen der inneren Uhr und die höhere Wahrscheinlichkeit, nicht ausreichend Wasser zu trinken.
Diesen Sommer haben wir in Europa eine Rekordhitze erreicht. Eine Bedrohung für die menschliche Intelligenz? „Mit dem Flynn Effekt hängt Hitze nicht zusammen. Bei Hitze geht es nicht um interindividuelle, sondern um intraindividuelle Unterschiede. Man weiß, dass, wenn uns beispielsweise zu heiß ist, wir keine guten IQ-Leistungen erbringen“, erklärt der Wiener Forscher Pietschnig. Wir seien gut darin, Testleistungen zu erbringen, je wohler wir uns fühlen. „Dafür brauchen wir ein mittleres Erregungsniveau: keine Schmerzen, nicht zu heiß, nicht langweilig, etc. Dann erbringen wir die beste Testleistung.“
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