An Ampeln wie dieser beim Wiener Museumsquartier müssen Fußgängerinnen und Fußgänger weit länger warten als Autos.

An Ampeln wie dieser beim Wiener Museumsquartier müssen Fußgängerinnen und Fußgänger weit länger warten als Autos.

© Kurier / Franz Gruber

Science

Wie Mathematik hilft, schneller durch die Stadt zu kommen

Stellt man sich die Arbeit eines Mathematikers vor, sind Ampeln kaum das erste, an das man denkt. Doch genau dieses Thema steht derzeit im Zentrum der Forschung von Rafael Prieto-Curiel am Complexity Science Hub (CSH) in Wien.

„Wenn man verschiedene Verkehrsmittel vergleicht, spielt die Ampelschaltung eine wichtige Rolle bei der Dauer einer Strecke“, sagt der Komplexitätsforscher. Der gebürtige Mexikaner wohnt und arbeitet seit 3 Jahren in Wien und merkte schnell, wie unfreundlich die Stadt für Menschen zu Fuß und auf dem Rad ist: „Wie kann es sein, dass es beim Museumsquartier, einer ziemlich Fußgänger-orientierten Zone, für Fußgänger und Radfahrer nur 15 Sekunden grün ist, aber 85 Sekunden lang für Autos?“. Am Schwarzenbergplatz sei die Verteilung – und damit die Wartezeit – noch unfairer.

Mathematisches Optimierungsproblem

Er hält es für problematisch, dass die klimafreundlichere Fortbewegungsvariante in der Ampelschaltung benachteiligt wird. Gleichzeitig sieht er ein mathematisches Optimierungsproblem: wenn alle Pendlerinnen und Pendler nicht ideal auf alle verfügbaren Verkehrsmittel aufgeteilt sind, dauert es für alle länger, an ihr Ziel zu kommen. 

➤ Mehr lesen: Wie die Schwerkraft bei gesellschaftlichen Prognosen hilft

„Es ist ziemlich einfach: wenn niemand außer dir in einer Stadt mit dem Auto fährt, bist du sehr schnell in der Arbeit. Wenn jeder mit dem Auto fährt, kommt es zu Staus und du bist viel länger unterwegs“, erklärt Prieto-Curiel. Mit den anderen Verkehrsmitteln sei es ähnlich – eine leere U-Bahn ist pünktlicher als eine, die völlig überfüllt ist. „Ziel ist das ideale Gleichgewicht: Wenn man beispielsweise bessere öffentliche Verkehrsmittel hat, fahren weniger Menschen mit dem Auto und die Stadt als Ganzes bewegt sich schneller“, sagt der Mathematiker.

Ampeln auf Online-Karten

Anhand offener Karten-Daten, in denen jede einzelne Ampel der Stadt eingetragen ist, versucht er derzeit zu modellieren, wie Wien diesem idealen Gleichgewicht näherkommen könnte. „Das braucht sehr viel Zeit und Computerleistung. Denn wir müssen jede mögliche Strecke mit allen Ampelschaltungen darauf simulieren“, erklärt Prieto-Curiel. 

➤ Mehr lesen: “Menschlicher Taschenrechner” bricht 6 Weltrekorde an einem Tag

Bei solchen Forschungsfragen zeige sich, wie mächtig Datenmodellierung als Werkzeug sei. Denn tausende Menschen nach ihren tatsächlichen Wegen und Wartezeiten zu befragen, sei viel zu aufwendig und teuer.

Daten als Zutaten, Modell als Rezept

Er vergleicht seine Arbeit mit dem Backen: „Daten sind die Zutaten, das mathematische Modell ist das Rezept.“ Er und sein Team sind die Bäckerinnen und Bäcker, die wissen, wie sie den gewünschten Kuchen herstellen können. 

Die möglichen Prognosen hängen von den verfügbaren Daten ab: „Wenn du nur Eier und Zucker hast, kann man einen Flan (eine Art Pudding) draus machen, mit etwas Mehl dazu wird es ein Biskuit, mit zusätzlicher Schokolade kann es eine Sachertorte werden“. 

Bei seiner Ampel-Modellierung habe er im Moment noch nicht alle Zutaten zusammen, und kann deshalb nur eine Schätzung des Ist-Zustands abgeben: „Wir gehen davon aus, dass eine durchschnittliche Person an einem Tag 6 Fußgängerampeln überquert, das bedeutet etwa 4 Minuten Wartezeit“, sagt der Komplexitätsforscher.

Rafael Prieto-Curiel

Mathematiker Rafael Prieto-Curiel beschäftigt sich am liebsten mit Themen, die gesellschaftliche Relevanz haben, z.B. nachhaltige Mobilität.

Doch wie entsteht eigentlich das Rezept, also das mathematische Modell? Prieto-Curiel zückt ein rotes Notizbuch, dessen Seiten kreuz und quer mit Formeln bekritzelt sind: „Ich verbringe die meiste Zeit mit Gleichungen. Also ich sitze da und denke nach.“

Nachhaltige Fortbewegung attraktiver machen

Sein Ziel ist es, die Ampelschaltungen in mehreren Städten zu untersuchen und für jede einzelne das ideale Gleichgewicht zu errechnen – auch um die Abhängigkeit von Autos zu verringern. Motorisierter Individualverkehr gehe mit so vielen Problemen einher – Luftverschmutzung, Lärm, Flächenversiegelung und vor allem Verschlimmerung der Klimakrise – dass man jetzt alles daran setzen sollte, alle anderen Fortbewegungsmittel attraktiver zu machen, meint Prieto-Curiel.

➤ Mehr lesen: Wie österreichische Forscher Krypto-Betrüger auffliegen lassen

„Auch als Mathematiker können wir Forschung zu Themen betreiben, die interessant und gesellschaftlich relevant sind. Und ich glaube städtische Nachhaltigkeit ist so ein Thema“,sagt der Komplexitätsforscher.

Pendelstrecken in 794 Städten

Das Ampel-Projekt ist nicht sein erstes, das sich mit komplexen Verkehrssystemen befasst: „Ich habe vorher in Medellín in Kolumbien gewohnt, eine wunderschöne, fußgängerfreundliche Stadt, wo man allerdings lang für Öffi-Tickets anstehen musste“. Das brachte ihn dazu, mathematisch zu untersuchen, wie der Prozess verbessert werden könnte. 

➤ Mehr lesen: Warum die 15-Minuten-Stadt die Welt nicht retten wird

Zuletzt hat er in seiner Studie „The ABC of mobility” 794 Städte weltweit nach ihrem sogenannten modal share, also der Verteilung auf verschiedene Verkehrsmittel untersucht. Das A steht dabei für aktive Mobilität, also etwa zu Fuß gehen oder Radfahren, B für Busse, Bahnen und andere öffentliche Verkehrsmittel und C für „cars“, also Autos, inklusive Taxis. 

Viel Verbesserungspotenzial in Wien

Wien liegt im internationalen Vergleich einigermaßen im Mittelfeld: 34 Prozent aller Wege werden zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt, 39 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln und 27 Prozent mit dem Auto. Utrecht in den Niederlanden nennt Prieto-Curiel mit 74 Prozent aktiver Mobilität als Positivbeispiel, Portland in den USA mit nur 12 Prozent als besonders negativ

Auf der Projekt-Webseite Cities moving kann man sich die Verteilung in verschiedenen Städten in einer interaktiven Grafik anschauen. Außerdem kann man den eigenen modal share mit Durchschnittswerten vergleichen.

Screenshot des modal share von Wien

Wien liegt beim „modal share”, also der Verteilung von Pendelstrecken auf verschiedene Verkehrsmittel, im Mittelfeld.

„In Wien werden mehr Strecken mit dem Auto zurückgelegt als in London, Paris oder Berlin“, sagt der Mathematiker. Eine komplett autofreie Stadt ist wegen Notfalldiensten und Menschen mit Behinderung unrealistisch. Aber mit weniger Autos und besserer Ampelschaltung kann die Pendelzeit vieler Menschen und die Lebensqualität in Wien für alle optimiert werden, da ist Prieto-Curiel sich sicher.

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Jana Wiese

interessiert sich besonders für die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technologie und Wissenschaft. Mag das offene Web, Podcasts und Kuchen, (food-)bloggt seit 2009.

mehr lesen
Jana Wiese

Kommentare