„Corona könnte uns von der Landkarte fegen“
„Das Coronavirus könnte uns von der Landkarte fegen“: So beschreibt Victoria Tauli-Corpuz die derzeit drastische Situation für viele indigene Völker, berichtet BBC. Sie ist eine bekannte Aktivistin für die Rechte von indigenen Völkern, Sonderberichterstatterin der UNO und eine Igorot – ein indigenes Volk auf der philippinischen Insel Luzon.
Ihre Sorge ist berechtigt. Indigene Völker sind stärker von Infektionskrankheiten betroffen. Während der H1N1-Pandemie in Kanada im Jahr 2009 machten Personen von kanadischen Indianerstämmen 16 Prozent aller Krankenhaus-Patienten aus – obwohl diese Gruppe lediglich 3,4 Prozent der gesamten kanadischen Bevölkerung ausmacht.
Höchste Infektionsrate in den USA
Auch mit Corona zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Einer von 2.300 indigenen Amerikanern ist in den USA an COVID-19 gestorben. Bei weißen Amerikanern ist es einer von 3.600. Indigene sind damit nach schwarzen US-Amerikanern die Bevölkerungsgruppe mit der höchsten COVID-19-Sterberate.
Die Navajo Nation Reservation, die sich auf einer Fläche von 70.000 Quadratkilometern erstreckt (Arizona, New Mexico und Utah), hatte im Mai die höchste Corona-Infektionsrate der ganzen USA.
Indigene Völker im Amazonas-Regenwald wurden besonders hart getroffen. Mit Stand 24. Juli starben 19.329 an COVID-19, aus mehr als 38 indigenen Gemeinschaften. 677.719 Personen sind bestätigt infiziert, die meisten davon in Brasilien.
Schlechtere Versorgung
Es gibt mehrere Gründe, warum indigene Völker so stark betroffen sind. „Wir haben weniger Krankenhäuser, Ärzte und Beatmungsgeräte“, sagt Tauli-Corpuz. Im Falle des Amazonas leben die Völker oft Tagesmärsche entfernt von professioneller, medizinischer Hilfe.
Ein weiterer Grund sind Vorerkrankungen, wie eingeschleppte Zivilisationskrankheiten. „Auch die Ernährung ist schlechter, was uns anfälliger macht“, sagt Tauli-Corpuz. Dies liegt unter anderem daran, dass den indigenen Völkern immer mehr Land weggenommen wird, das sie früher bewirtschaften konnten. Deshalb sind sie immer mehr auf industriell hergestellte Nahrungsmittel angewiesen, was viele Menschen dieser Völker nicht vertragen.
Außerdem verdienen in westlichen Ländern Mitglieder dieser Gemeinschaften deutlich weniger als andere ethnische Gruppen – in Australien sind es 33 Prozent weniger. Dadurch können auch keine hochwertigen Nahrungsmittel gekauft werden, sondern oft nur günstige Lebensmittel und Junkfood. Deshalb ist ua. auch Diabetes Typ 2 ein großes Problem in solchen Gruppen. In Ländern, in denen es keine medizinische Grundversorgung für indigene Völker gibt, können sich die Patienten oft nicht das nötige Insulin leisten.
Ethnozid droht
Für die indigenen Völker im Amazonas-Regenwald könnte Corona deshalb jetzt einen Ethnozid auslösen. Durch das Abholzen ihres Lebensraumes, Umsiedelungen wegen Industrialisierung, Waldbränden und Klimawandel seien die Völker ohnehin schon seit Jahren in ihrer Existenz bedroht gewesen.
Die Gemeinschaften der indigenen Bevölkerungsgruppen kämpfen jetzt um ihr Überleben. Sie basteln sich Schutzmasken, richten Stationen zur Desinfektion ein, verteilen Lebensmittel und versuchen sich zu isolieren. Wichtig ist auch, dass COVID-19-Informationen in die lokalen Sprachen übersetzt werden. Einige Gemeinschaften würden sonst nicht wissen, welche Corona-Regeln in dem Land derzeit herrschen.
Wissen geht verloren
COVID-19 birgt ein weiteres Risiko für diese Gruppen. In vielen Gemeinschaften wird Wissen traditionell von den Ältesten weitergegeben, wie zu Kultur, Traditionen oder Heilpflanzen, die in der Umgebung wachsen. Da ältere Menschen besonders anfällig für Corona sind, könnte dieses Wissen für immer verloren gehen, wenn es nicht rechtzeitig weitergegeben wurde.
Außerdem kommt hinzu, dass die Pandemie von manchen Akteuren aktiv genutzt wird, um die indigenen Völker noch weiter zu verdrängen. In einigen Ländern werden etwa Naturschutzregeln gelockert, um die Wirtschaft nach Lockdowns wieder anzukurbeln. In Brasilien und Indonesien haben die Brandrodungen stark zugenommen, weil die Regierungen dort durch die Corona-Krise abgelenkt sind. In Afrika, speziell Kenia und Uganda, hat das Land-Grabbing während der Pandemie zugenommen, wodurch indigene Völker ihren Lebensraum verlieren.