Supraleitung: So offen ist die Wissenschaft
So schön wäre es gewesen! Ein unscheinbares Dokument, hochgeladen auf einem Webserver für Physik-Insider, brachte die Welt der Wissenschaft zum Wackeln. Koreanische Forscher behaupteten am 22. Juli, einen Raumtemperatur-Supraleiter entdeckt zu haben – ein Material, das angeblich bei normaler Temperatur und normalem Druck elektrischen Strom völlig ohne Widerstand leitet. Man nannte es „LK-99“. Seit vielen Jahren hatte man auf der ganzen Welt nach einem solchen Material gesucht.
Würde das funktionieren, wäre das der Beginn einer technischen Revolution: Man könnte Strom verlustfrei leiten und speichern, man könnte ohne großen Aufwand gewaltige Magnetfelder erzeugen – für MRT-Maschinen im Krankenhaus, für Magnetschwebebahnen und vieles mehr. Leider zeigt sich: Das Material hält wohl nicht, was seine Erfinder versprachen. Trotzdem ist die Sache höchst interessant. Man konnte in Echtzeit miterleben, wie moderne Wissenschaft funktioniert – und dass sie mit neuen, verrückten Ideen extrem offen und großzügig umgeht, auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird.
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Berechtigte Zweifel von Anfang an
Zweifel gab es von Anfang an: Schließlich klang die Behauptung fast zu gut, um wahr zu sein – und es handelte sich bloß um einen Vorbericht. Richtig ernst nehmen kann man wissenschaftliche Ergebnisse üblicherweise erst, wenn sie von anderen, unabhängigen Leuten sorgfältig überprüft und dann in einem wissenschaftlichen Fachjournal publiziert wurden.
Außerdem erschien einiges an diesem Vorbericht ziemlich verdächtig: Die Diagramme sahen ungewöhnlich aus, der Text war offenbar sehr überhastet geschrieben worden, wichtige Details, die man in einem überzeugenden Dokument erwarten würde, fehlten. Das ist seltsam – wenn man ein potenziell weltbewegendes Ergebnis zu verkünden hat, dann sollte man das doch möglichst ordentlich und sauber präsentieren.
Überstunden statt Spott
Wie reagierte man nun in Physik-Kreisen darauf? Wurden die Autoren aufgrund ihrer unkonventionellen Behauptungen als Feinde der reinen Wissenschaftslehre angeprangert? Nein! Wurden sie als unglaubwürdige, unwissenschaftliche Querdenker verspottet? Nein! Auch wenn fast alle Leute aus der Wissenschafts-Community zunächst der Meinung waren, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Fehler recht groß war, wurde die Sache ernst genommen und mit viel Aufwand geprüft.
Forschungsgruppen auf der ganzen Welt unterbrachen ihre bisherige Arbeit, machten Überstunden und versuchten innerhalb weniger Tage, das neue Material LK-99 nachzubauen und nachzumessen. Andere entwickelten Computersimulationen und versuchten, die Eigenschaften des Materials auf Supercomputern zu berechnen. Zunächst ergaben sich tatsächlich vielversprechende Hinweise darauf, dass dieses neue Material ganz besondere Eigenschaften hat, aber ein überzeugender Nachweis supraleitender Eigenschaften blieb aus.
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Wissenschaft ist undogmatisch
Das ist schade, Grund für Optimismus liefert es aber trotzdem. Erstens: Wissenschaft funktioniert. Wenn kluge Leute auf der ganzen Welt zusammenarbeiten, wenn alle ihre unterschiedlichen Fähigkeiten einsetzen, um gemeinsam eine wichtige Frage zu beantworten, dann kann innerhalb kürzester Zeit eine gewaltige Menge an neuem Wissen entstehen.
Und zweitens sehen wir hier: Wenn selbsternannte Querdenker und Wissenschafts-Kritiker der Wissenschaft vorwerfen, sie sei dogmatisch, verbohrt und intolerant, sie würde an alten Glaubenssätzen eisern festhalten und neue Ideen nicht akzeptieren, dann ist das einfach falsch. Auch mit haarsträubend exotischen Ergebnissen wird man ernst genommen – wenn man seine Ergebnisse auf eine nachvollziehbare, überprüfbare Weise präsentiert.
Mit aller gebotenen Skepsis, aber auch mit allem nötigen Ernst wurde die Sache rational untersucht. So gehört sich das. So sollten wir das auch in Zukunft machen. Dann werden wir, als Menschheit, gemeinsam noch viele großartige Entdeckungen machen – auch wenn wir auf den lange gesuchten Raumtemperatur-Supraleiter zumindest vorerst noch warten müssen.