Gemeinsam schimpfen ist kein Standpunkt
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Jede Technologie hat ihre Nachteile. Impfungen retten zwar Leben, aber sie können unangenehme Nebenwirkungen hervorrufen. Rasenmäher sind praktisch, aber laut. Feuer ist angenehm hell, aber mit Sicherheit haben schon unsere Vorfahren vor hunderttausenden Jahren darüber geschimpft, dass man sich daran manchmal üble Brandblasen holt.
Bei politischen Ideologien ist es genauso. Von Anarchokapitalismus bis zum Kommunismus, von der Theokratie bis zur basisdemokratischen Kommune: Das Zusammenleben von Menschen ist immer kompliziert. Alles hat Nachteile. Eine perfekte Art des Zusammenlebens, die alle Leute glücklich macht, werden wir vermutlich niemals finden.
Wenn aber ganz objektiv überall Nachteile zu finden sind, dann bedeutet das auch: Es ist viel einfacher, gemeinsam über die Nachteile von etwas zu schimpfen, als sich gemeinsam hinter einer Idee zu versammeln, die alle für positiv und erstrebenswert halten. Es ist leicht, etwas schlechtzureden. Es ist verdammt mühsam, sich eine neue, bessere, konstruktive These auszudenken.
Destruktive Thesen: Gemeinsam dagegen sein
Das erklärt, warum wir derzeit eine Schwemme ideologischer Strömungen erleben, die sich in erster Linie darüber definieren, gegen etwas zu sein. Man macht sich oft gar nicht die Mühe, ein logisches, in sich stimmiges Gegenmodell zu präsentieren – denn auch das hätte natürlich wieder seine Nachteile, die von anderen Leuten angegriffen werden könnten. Wenn man sich aber bloß darauf beschränkt, die Gedanken anderer als böse hinzustellen, hat man leichtes Spiel und erntet rasch Zustimmung. Man könnte von „destruktiven Thesen“ sprechen.
Man kennt das aus Verschwörungstheoretiker-Kreisen: Leute, die an die flache Erde glauben, verbünden sich mit Junge-Erde-Kreationisten und mit UFO-Forschern, die von Aliens aus dem Inneren der hohlen Erdkugel erzählen. Niemals könnten sich diese Gruppen auf irgendetwas Konstruktives einigen. Sie widersprechen einander völlig. Das einzige verbindende Element ist eine Ablehnung des „Mainstreams“, ein tiefsitzendes Misstrauen gegen „die Wissenschaft“, gegen die NASA-Eliten, die uns vorschreiben wollen, wie das Universum aussieht. Und das genügt offenbar.
Konstruktive Ideen haben immer Nachteile
Ähnlich ist es in der Politik: Manche Ideologien beschränken sich darauf, gegen etwas zu sein: Gegen Sozialleistungen für Ausländer, gegen Rechte für Transsexuelle, oder ganz abstrakt gegen „die da oben“. Auch in der Umweltbewegung sieht man das: Gegen Umweltzerstörung sein, ist einfach. Ein konstruktives Gegenkonzept zu entwickeln, ist viel schwieriger. Eine Bürgerinitiative gegen ein Infrastrukturprojekt zu gründen, geht schnell. Eine Bürgerinitiative zu gründen, die ein Infrastrukturprojekt an einem bestimmten Ort durchsetzen will, gelingt kaum. Denn egal welchen Vorschlag man ausarbeitet: Sobald er konkret wird, hat er garantiert Nachteile.
Oft stehen einander zwei Lager gegenüber, von denen eines konstruktiv, das andere destruktiv argumentiert. Der Ruf nach einer beherzten Energiewende zum Beispiel ist konstruktiv. Es gibt durchdachte, ausgearbeitete Konzepte, die man umsetzen könnte, doch sie alle bringen selbstverständlich Nachteile mit sich. Die Gegenseite argumentiert eher destruktiv: Gegen Einschränkungen des Autoverkehrs, gegen Ökosteuern, gegen die Notwendigkeit, Gewohnheiten umzustellen – ohne aber ein schlüssiges Gegenkonzept zu präsentieren
Illusion der Einigkeit durch gemeinsames Dagegensein
In so einer Situation tappt man sehr leicht die Falle, gemeinsame Ablehnung einer Sache mit inhaltlicher Übereinstimmung zu verwechseln – man könnte sie den „Trugschluss des Dagegenseins“ nennen: Weil es viel leichter ist, Nachteile aufzuzeigen als konstruktive Lösungen, können wir gefühlsmäßig den Nachteil-Aufzeigern viel leichter zustimmen als den Lösungs-Entwicklern. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Nachteil-Aufzeiger etwas anstreben, das gut für uns ist. Wir fühlen uns also zu einem Lager hingezogen, das unsere Bedürfnisse vielleicht schlechter vertritt als das andere. Wenn ich mich mit jemandem über die Nachteile von etwas einigen kann, macht uns das noch lange nicht zu Verbündeten.
Deshalb müssen wir immer versuchen, konstruktive Thesen mit konstruktiven Thesen zu vergleichen. Gemeinsam gegen etwas sein ist ein ziemlich schlechter Grund, einem Verein beizutreten oder eine Partei zu wählen. Dass man das in politischen Diskussionen manchmal anders fühlt, ist völlig menschlich und normal. Aber am Ende geht es darum, gemeinsam etwas Konstruktives zu erreichen. Dabei sollte man sich von verbindenden Abneigungen gegen irgendetwas nicht ablenken lassen.
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