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Meinung

Wissenschaft wird überschätzt – und unterschätzt

Wir leben in einer Zeit, in der man der Wissenschaft entweder alles zutraut oder überhaupt nichts zutraut.

Es ist paradox: Wir leben in einer Zeit, in der man der Wissenschaft entweder alles zutraut oder überhaupt nichts zutraut. In der man sich von der Forschung einerseits sagenhafte Wunderdinge erwartet und sie andererseits lächerlich macht – je nachdem, was gerade besser ins eigene weltanschauliche Konzept passt. Beide Extreme sind selbstverständlich falsch. Wir brauchen dringend ein realistischeres Bild davon, was Wissenschaft und Technik leisten können und was nicht.

Wenn wissenschaftliche Ergebnisse unangenehm klingen, dann relativiert man gerne: Eine Studie belegt wieder einmal die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels? Ach, das ist sicher übertrieben, die Wissenschaft hat ja auch nicht immer recht! Wir müssen den Umstieg auf Alternativenergie schaffen? Tut mir leid, das ist technisch einfach nicht möglich! Hoher Fleischkonsum verkürzt die Lebenserwartung? Da hat die Wissenschaft sicher nicht bedacht, dass ich doch Bratkartoffeln dazu esse, die sind gesund!

Wenn es hingegen um Science-Fiction-artige Vorhersagen geht, wird der Wissenschaft fast alles zugetraut: Kommende Generationen werden auf dem Mars leben? Aber sicher, das wird die Forschung schon hinkriegen! Eines Tages werden wir uns von einem Ort zum anderen beamen? Klar, man muss es nur wirklich wollen! Demnächst werden wir alle mit Flugtaxis unterwegs sein? Auf jeden Fall, wer das nicht glaubt, ist ein konservativer Kleingeist! Denkt doch mal in großen Visionen!

Hier Fakten, dort Visionen

Wir müssen unterscheiden zwischen zuverlässigen wissenschaftlichen Fakten, die durch ein ganzes Netz aus Messungen, Beobachtungen und Berechnungen unzählige Male belegt wurden, und bloßen wissenschaftlichen Vermutungen, Behauptungen und Visionen. Manches in der Wissenschaft ist so verlässlich, dass wir darüber nicht mehr streiten müssen. Anderes hingegen ist vorerst noch höchst unklar – und das gilt oft ganz besonders für die technologische Umsetzung wissenschaftlicher Ideen.

Dass es Kernfusion gibt, ist eine Tatsache. Ob wir eines Tages tatsächlich Kernfusionskraftwerke nutzen werden, ist unklar. Dass man mit verschiedenen Materialien elektrische Energie speichern kann, ist eine Tatsache. Wann die nächste Generation neuartiger Hochleistungsbatterien auf den Markt kommt, weiß niemand so genau. Auf welcher Bahn man eine Rakete zum Mars schicken kann, lässt sich hochpräzise ausrechnen. Wann der erste Mensch den Mars betreten wird, weiß heute niemand.

Wissenschaft und Technik braucht beides: das Zuverlässige und das Wackelige. Auf Basis solider Fakten muss man das Unerhörte wagen. Dabei ist Mut gefragt: Die meisten Experimente gehen schief, die meisten Ideen stellen sich als falsch heraus. Das ist in Ordnung. Man verändert die Welt nur, wenn man in großen Visionen denkt. Aber wenn man zwischen solidem Wissen und gewagter Vision nicht unterscheiden kann, wird es gefährlich.

Visionen ermöglichen – aber sich nicht auf sie verlassen

Leider kommt das erschreckend oft vor – und hier passieren Fehler in beide Richtungen: Einerseits werden gut belegte Fakten als bloße Meinung von WissenschaftlerInnen abgetan – damit kann man sie dann politisch ignorieren. Andererseits werden wackelige Ideen viel zu schnell als kommende Gewissheit dargestellt: In den USA wird ein Kernfusions-Experiment durchgeführt, und in Deutschland spricht eine Ministerin davon, in zehn Jahren Fusionskraftwerke in Betrieb zu nehmen. Man erzeugt E-Fuels und tut so, als wäre es überhaupt kein Problem, diesen Prozess auf großindustrielle Maßstäbe hochzuskalieren.

Besonders skurril wird es bei der Abscheidung von CO2 aus der Atmosphäre: Niemand weiß heute, ob das in großem Stil gelingen wird. Trotzdem richten wir heute politische Entscheidungen nach Klimamodellen aus, in die man diese CO2-Abscheidung als zukünftige Klimamaßnahme bereits mit einberechnet. Es ist, als würde man Geld ausgeben, weil man schon mal einberechnet, demnächst einen viel besser bezahlten Job zu finden – obwohl man noch keine Ahnung hat, was das überhaupt für ein Job sein könnte.

Die Politik sollte wagemutige technologische Visionen fördern – schließlich begann auch die Elektrizität oder die Computertechnologie irgendwann als kleine verrückte Idee. Aber die Politik sollte sich nicht darauf verlassen, dass eine ganz bestimmte Vision auch tatsächlich zur Wirklichkeit wird. Technologieoffenheit ist etwas Wunderschönes. Blind darauf zu vertrauen, dass uns eine bestimmte Technologie schon irgendwie retten wird, auch wenn heute vielleicht gewichtige wissenschaftliche Argumente dagegen sprechen, ist ein fahrlässiger Fehler.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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