Dauerschmerzen mit elektrischen Impulsen im Ohr lindern
Erst drückt es im Kreuz, dann zieht es im Nacken. Und oft wandert der Schmerz bis in die Gliedmaßen. Rückenschmerzen haben vielschichtige Auswirkungen und zählen zu den häufigsten chronischen Schmerzen. Laut der Österreichischen Schmerzgesellschaft leiden hierzulande 1,8 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen. Die werden als solche bezeichnet, wenn sie länger als 12 Wochen andauern.
Behandelt werden sie unterschiedlich – oft mit Medikamenten. Für viele Betroffene bringen diese jedoch keine Erleichterung mehr. Besonders vielversprechend ist in diesem Fall die sogenannte Vagusnerv-Stimulation. „Der Vagusnerv ist der längste Nerv im Körper und für viele autonome Körperfunktionen sowie für die Schmerzwahrnehmung zuständig“, sagt Eugenijus Kaniusas vom Institut für Microwave and Circuit Engineering an der TU Wien der futurezone.
Der Nerv besteht aus vielen Fasern, wovon manche bis zu den inneren Organen und bis zum Ohr reichen. Wird er dort durch elektrische Impulse stimuliert, können chronische Schmerzen prinzipiell gelindert werden.
Hauchdünne Scheiben
Bei der Anbringung der Elektroden im Ohr mussten sich Ärzte bislang allerdings auf Erfahrungswerte verlassen. Der richtige Abstand zum Nerv ist dabei wesentlich, denn: „Ist die Elektrode zu weit entfernt, wird der Nerv nicht ausreichend stimuliert. Ist sie zu nah, dann ist das Signal zu stark. Der Nerv kann blockiert werden, mit der Zeit ,ermüden’ und irgendwann keine Signale mehr ans Hirn weiterleiten“, sagt Kaniusas.
Dieses Risiko soll in Zukunft verringert werden. Kaniusas und sein Team haben in Zusammenarbeit mit der MedUni Wien in einer mikroanatomischen Studie erstmals detailliert untersucht, wie die Nervenfasern und Blutgefäße im Ohr räumlich verlaufen und wie groß im Durchschnitt der Abstand zwischen ihnen ist.
„Es wurden Proben aus einem Ohr entnommen und in Scheiben in einer Dicke im Mikrometerbereich aufgeschnitten. Diese Scheiben wurden dann mit einer hochauflösenden Kamera abfotografiert“, sagt der Forscher. Dabei seien mehr als 10.000 Bilder entstanden, die in Folge im Computer aufeinandergestapelt wurden.
3D-Modell
Laut Kaniusas konnte so eine genaue 3D-Struktur der Nervenbahnen, Venen und Arterien erfasst werden. „Mit unserem 3D-Modell konnten wir die Stimulationsnadeln präzise im Ohr positionieren und mit elektrischer Spannung stimulieren. Dabei konnten wir untersuchen, wie stark diese Spannung sein darf, damit der Nerv zwar gereizt, aber nicht überreizt oder mit der Zeit übermüdet wird“, so Kaniusas. Wesentlich war also, den Vagusnerv schonend, aber effektiv zu reizen.
Signalmuster
Im Rahmen der Testungen an Schmerzpatienten konnte ein neuartiges Strom-Signalmuster ermittelt werden, womit der Vagusnerv im Ohr besonders wirksam gereizt wird. Dabei spielte nicht nur die Stärke, sondern auch der zeitliche Verlauf der elektrischen Impulse eine bedeutende Rolle. Es hat sich herausgestellt, dass ein dreiphasiges Signalmuster besonders wirkungsvoll sein kann: 3 verschiedene Elektroden liefern dabei jeweils auf- und abschwellende Strompulse, die sich auf der Oberfläche im Ohr ausbreiten.
„Dass ein dreiphasiges Signalmuster zur Stimulation so wirksam ist, war bislang noch nicht bekannt. Mithilfe unserer Studie haben wir erkannt, dass wir die Nerven für einen erhöhten Informationsfluss, der in das Gehirn geht, am besten zeitversetzt reizen“, so der TU-Forscher. Ihm zufolge biete die Studie eine physikalisch solide Grundlage, um Stimulationsmuster zukünftig weiter zu optimieren.
Gerät am Hals
Kontrolliert werden die elektrischen Impulse von einem kleinen tragbaren Gerät am Hals, das von SzeleSTIM, ein Spin-off der TU Wien und MedUni Wien, hergestellt wird. Das Gerät soll dabei den physiologischen Zustand der Patienten messen und demnach das Stimulationsmuster anpassen. Man spricht laut Kaniusas auch von einer „Individualisierten elektrischen Pille“ – auf Englisch „Electroceutical“ genannt.
Rücken und Hals
Zur Anwendung kann sie bei einer Reihe von chronischen Schmerzen kommen, insbesondere bei chronischen Rücken- und Halsschmerzen, die auch als Zervikalschmerzen bekannt sind. Bei akuten Schmerzen sei die Therapie hingegen weniger effizient, weil hier andere physiologische Mechanismen der Schmerzgeneration im Spiel seien. Vorläufermodelle der elektrischen Pille gibt es bereits. Jene, die das 3-Phasen-Signalmuster integriert haben, sollen nächstes Jahr auf den Markt kommen.
Multimodale Therapie
Wenn gewisse Behandlungen keine Schmerzlinderung mehr bringen, kann laut der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) auch eine individualisierte und kombinierte Therapie helfen. Eine im Jahr 2019 vorgestellte Studie hat die Wirksamkeit einer multimodalen Behandlung bestätigt: Demnach war sie bei 60 Prozent der Probanden wirkungsvoll.
Für die Studie haben 800 Menschen mit chronischen Rücken- oder Kopfschmerzen sowie Schmerzen, die die Muskulatur und das Skelett betreffen, eine vierwöchige interdisziplinäre Therapie absolviert. Darin enthalten sind etwa eine medizinische Trainingstherapie, Ausdauer-Kraftraining, eine psychologische Gruppentherapie und ein Schmerzbewältigungs- und Entspannungstraining. Auch die medikamentöse Therapie wird angepasst. Übungsprogramme für Zuhause ergänzen das Angebot.
Lebensqualität
Über 90 Prozent der Patienten waren mit der Therapie zufrieden – das Gros konnte nach der Behandlung ihrem Beruf wieder nachgehen. Laut Studien-Mitautor Stefan Neuwersch, Vorstandsmitglied der ÖSG, kam es nicht nur zu einer deutlichen Schmerzlinderung, sondern auch zu einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität.