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Gastkommentar

Corona: Weder Rache noch Rettung des Klimas

Die esoterischen Entschlackungs-Theoretiker, die sich drüber freuen, dass der gebeutelte Planet sich angeblich mit dem tödlichen Virus an der Menschheit rächt, sind gelinde gesagt geschmacklos. Auch in den Jubel über saubere Luft in China, klares Wasser in Venedigs Kanälen und Delfine in schiffsfreien Häfen mag ich nicht so ganz einstimmen.

Die Pause, zu der Industrie und Verkehr nun gezwungen sind, verschafft auch der Natur eine kurzfristige Verschnaufpause. Aber das sind keine guten Nachrichten, wenn die Effekte nicht auf grundlegende strukturelle Veränderungen zurück zu führen sind. Im Gegenteil: Wir müssen sehr gut aufpassen, dass die durch Corona entstehenden wirtschaftlichen Einbußen nicht als Argument zur Verzögerung oder gar Abschaffung von Umwelt- und Klimaschutz dienen.

Warum machen viele immer noch weiter wie bisher?

„Es gibt Statistiken, es gibt rund um die Uhr Informationen zu COVID-19, in China und Italien sind die verheerenden Auswirkungen offensichtlich. Gleichzeitig ist klar, was wir alle zu tun haben, die Lösungen sind so einleuchtend. Warum nehmen noch immer so viele diese Sache ignorant auf die leichte Schulter und machen ganz normal weiter als wär nix?“ 

Die Frage stellte mir ein Freund gestern, als wir uns abends zum regelmäßigen gemeinsamen Netflixen getroffen haben – nur diesmal virtuell statt auf der Couch. Und in all den unangebrachten oder nicht fertig gedachten Vergleichen, die gerade wild zwischen Corona- und Klimakrise angestellt werden, kann man in dieser Frage die frappierende Ähnlichkeit zur Klima-Debatte nicht ausblenden. Denn auch da fragen wir uns: Die Fakten liegen auf dem Tisch, die Lösungen sind klar, die Lage ist ernst. Warum machen trotzdem so viele Menschen weiter wie bisher?

Auf schnellstem Weg zum Irrtum

Eine Antwort darauf liefert Daniel Kahnemann in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“. Mit seiner Theorie brachte er die Wirtschaftswelt, die die marktgläubigen Chicago-Boys rund um Milton Friedman aufgebaut hatten, gewaltig ins Wanken.

Kurz gesagt: Kahnemann widerlegte das rationale und ziemlich weltfremde Bild der Ökonomen, dass der Mensch ein rationaler Nutzenoptimierer sei. Stattdessen zeigt er: Wir Menschen treffen irrationale Entscheidungen und begehen dabei vorhersagbare Fehler. Die Abkürzungen, die unser Gehirn dabei direkt hin zum Irrtum nimmt, folgen bestimmten Mustern. Man nennt sie Heuristiken.

Wir hassen Verluste mehr, als dass wir Gewinne lieben

Die meisten von uns sind eher auf Sicherheit bedacht. Wir nehmen lieber 100 Euro in bar als ein Los, mit dem wir mit 55 Prozent Wahrscheinlichkeit 200 Euro gewinnen könnten – und in 45 Prozent der Fälle leer, also gleich wie zuvor, dastehen ließe.

Doch wehe, es droht ein Verlust. Dann gehen wir enorme Risiken ein, wenn auch nur die kleinste Wahrscheinlichkeit besteht, den Verlust abzuwenden. Egal wie irrational wir dabei handeln. Das gilt auch, wenn Menschen befürchten, ihre Gewohnheiten zu verlieren. Oder das, worüber sie jahrelang ihren Freiheitsbegriff definierten. Selbst dann, wenn rational betrachtet auf der anderen Seite ein Gewinn an Gesundheit, Lebensdauer oder Lebensqualität steht. Was wir als Gewinn oder als Verlust definieren, ist eine Frage der Wahrnehmung. Und die ist beeinflussbar.

Zwei Denksysteme

Kahnemann unterscheidet zwei Systeme unseres Denkens. Das intuitive, schnelle, automatische „System 1“ und das rationale, langsame, abwägende „System 2“. Um Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen, stellen wir nicht zuerst rationale Analysen an. Wir greifen mit dem System 1 zuerst auf Erinnerungen zurück und beurteilen eine Situation danach, ob sie uns vertraut oder vorstellbar erscheint. Die Grundlage dafür müssen nicht unmittelbar am eigenen Leib gemachte Erfahrungen sein.

Auch wenn wir von einer Situation sehr häufig oder sehr plakativ und emotional in den Zeitungen lesen, halten wir es für wahrscheinlicher, dass sie eintritt. Über Autounfälle wird auffallender berichtet als über Herzinfarkte. Deshalb antworteten in entsprechenden Versuchen 80%, dass Unfälle die häufigste Todesursache seien. Statt Wahrscheinlichkeiten zu analysieren, vertraut unser Gehirn zuerst darauf, was uns schnell einfällt: Wenn wir Bilder von Autounfällen leicht abrufen können, erscheinen sie uns als häufigste Todesursache wahrscheinlich.

Fakten verfügbar, häufig und repräsentativ machen

Kahnemanns Theorien können eine Erklärung dafür liefern, warum manche Menschen sich nach wie vor in Gruppen im Park treffen, täglich einkaufen gehen oder eben auch maximal umweltschädlich durchs Leben gehen, die Klimakrise leugnen oder Parteien wählen, die das tun: Selbst wenn ihr System 2 die Fakten kennt, so hält System 1 es immer noch für unwahrscheinlich, dass sie davon betroffen sein könnten.

Das Ziel muss also in beiden Fällen sein, die Informationen, mit denen System 2 eine ausgewogene Entscheidung treffen würde, rüber in unseren Autopiloten zu bekommen, indem man Bezug erzeugt. Schlimmstenfalls wird der hergestellt, indem man selbst oder das unmittelbare Umfeld direkt betroffen ist. Bestenfalls erreichen Politik und Organisationen denselben Effekt, bevor es zum Äußersten kommt. Durch gezielte Kommunikation, häufige Wiederholung, emotionale Nähe, einprägsame Bilder, repräsentative Beispiele aus den Lebenswelten.

Ein letzter Vergleich zwischen Corona-Krise und Klimakrise sei mir gestattet. Kahnemann warnt: Eine Gesellschaft, die kurzfristigen Gewinn nicht von langfristigem Nutzen unterscheiden kann, verliert die Fähigkeit, selbst existenzbedrohende Gefahren ernst genug zu nehmen. Wir haben es in der Hand, diese Fähigkeit weiter zu entwickeln und Gesellschaft zu verändern. Und gemeinsam schaffen wir es zuerst durch diese Pandemie und dann durch die Klimakrise. Davon bin ich fest überzeugt. Passt auf euch auf!

Über die Autorin

Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.

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Tina Wirnsberger

Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.

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