© Rudolf Semotan, Kurier

Peter Glaser: Zukunftsreich

Der Jungbrunnen

Im Jahr 2020 bringt ein kleines kalifornisches Biotech-Unternehmen einen Wirkstoff auf den Markt, der das Altern dramatisch verlangsamt und die durchschnittliche Lebenserwartung um etwa 50 Jahre anhebt. Dank dieser Jugendpille können Menschen nun 130 Jahre alt werden. Welcher molekulare Mechanismus dabei abläuft, gehört zu den bestgehütetsten Geschäftsgeheimnissen der Welt. Der Unternehmensgründer, Spitzname „Pill Gates", wird innerhalb eines Jahrzehnts zum reichsten Mann der Erde.

Die Verjüngung ist nicht rückwirkend zu haben. Als die Jugendpille aufkommt, kann ein 70jähriger seine verbliebene Lebenserwartung von fünf Jahren um gerade einmal drei Jahre verlängern. Ein 30-jähriger hat bereits die Chance, 30 Jahre älter zu werden. Aber erst ein Neugeborenes, das die Jugendpille bereits mit der Muttermilch verabreicht bekommt, kann die neue Lebenlänge voll ausschöpfen.

Mit 80 aussehen wie zuvor mit 40

Biologische Phasen wie Geschlechtsreife im zweiten oder weibliche Menopause im fünften Lebensjahrzehnt läßt der Wirkstoff unverändert. Was sich verändert, ist, dass die Menschen nun immer älter werden und dabei immer jünger aussehen. Wer ab 2020 die Jugendpille nimmt, kann im Jahr 2090 - mit 80 - aussehen, wie man zuvor mit 40 ausgesehen hat.

Aber diese fantastische Option gibt es nicht überall. Frei zugänglich ist der pharmazeutische Jungbrunnen nur für Bewohner der Industriestaaten. Nachdem sich im Rest der Welt Geiselnahmen zur räuberischen Pillenbeschaffung häufen, kommt es zu einer Krise im Ferntourismus. In Europa findet die Sekte der „Authentisch Alternden" (AUTAL) Zulauf, eine Gruppe von Pillenverweigerern. Durch radikale Gesetzesänderungen müssen die Rechtssysteme der sprunghaft angestiegenen Lebenserwartung angepaßt werden – für jemanden, der 130 Jahre alt werden kann, ist die herkömmliche Dauer einer Haftstrafe wesentlich leichter zu verschmerzen.

Jahrzehntelang jugendlich - einschließlich Risikofreude

Die Jugendpille muß täglich eingenommen werden. Pillenschachteln mit Zeitsignal oder Tweetomat werden zum Muß. Als das Präparat erstmals in einer nikotinversetzten Version angeboten wird, steigen Raucher in Scharen um - der Suchteffekt verhindert, dass man vergißt, seine Tagesdosis einzunehmen. Es gibt nun auch keinen Grund mehr, mit 30 besonnener zu werden. Das Gefühl, jung zu sein, hält nun Jahrzehnte länger an - einschließlich der damit verbundenen Risikofreude.

Wie Kolumbus auf den Horizont zu, segelt eine Generation von Alters-Expandierten nach ihren neuen Lebensgrenzen hin. Das Aufschieben entwickelt sich zu einer verhängnisvollen Lebensphilosophie. In Europa überstrahlt in den Jahren bis 2030 ein anderes Phänomen die erst langsam zunehmenden Auswirkungen der Jugendpille: Die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er-Jahren drängen ins Rentenalter, die Gesellschaft wird vehement älter. Durch das verlangsamte Altern bleiben nun zusätzlich immer mehr Menschen immer länger am Leben. Um das Jahr 2060 hält der seit einem Jahrhundert anhaltende Bevölkerungsschwund in den Industrienationen erstmals inne. Die Bevölkerungszahl erreicht neuerlich den Stand von 2010.

Militante Rentnerguerilla

Die Folgen der Jugendpille machen aus Reformen Revolutionen. Ganze Wirtschaftszweige wie Versicherungen und Banken, die ihre Geschäfte an einer nunmehr hinfälligen Lebenserwartung ausgerichtet hatten, sehen sich mit drastischen Umwälzungen konfrontiert. Das Rentenalter wird jährlich um ein Jahr erhöht und 2059 drei Jahre lang an der magischen Grenze von 99 Jahren angehalten, um schließlich auf ein Eintrittsalter von 110 Jahren festgelegt zu werden. Das Rentensystem wird vom Umlageverfahren wieder auf das vor der Rentenreform von 1957 betriebene Ansparsystem umgestellt. Die Kosten der Systemumstellung führten zu Renteneinbußen von weit über 50 Prozent und einer Protestbewegung, die in Anschlägen einer transeuropäischen militanten Rentnerguerilla gipfelt.

Störe meine Greise nicht

Da mit einem 12-jährigen Schulbesuch nicht mehr genug Wissen für die kommenden 130 Jahre zu vermitteln ist, wird das kaskadierte Bildungssystem eingeführt: 10 Jahre Unterricht, gefolgt von 20 Arbeitsjahren, gefolgt von einer neuerlichen Schulzeit, etc.

Die immer mehr Alten und Jungen Alten (Jalts) erprobten neue Lebensformen - statt mehr Altersheime gibt es betreutes Wohnen plus Autonomie, Alten-Wohngemeinschaften oder Mietkomplexe mit Pflegenest. Statt eines befürchteten Zerfalls der Generationensolidarität erweisen sich familiäre Bindungen als erstaunlich stark. Da zunehmend vitale ältere Familienmitglieder zur unentgeltlichen Kinderbetreuung zur Verfügung stehen, wird auch das Kinderkriegen wieder attraktiv.

Sterben - ein exotisches Ereignis

Anders als in Europa und Japan liegt die Geburtenrate in den USA bereits zu Beginn des „Jugendpillenknicks" auf Bestandhaltungsniveau. Innerhalb von fünf Jahrzehnten nimmt die US-Bevölkerung um zusätzliche 40 Millionen Menschen zu. Als gegen Ende des 21. Jahrhunderts eines der weltgrößten Ölfelder in Saudi-Arabien erschöpft ist, macht die einsetzende Energiemangelhysterie amerikanische Atomenergie-Befürworter zu Stars. Während im Übergang ins 22. Jahrhundert in ganz Europa neue Kernreaktoren gebaut werden, läßt die saudische Regierung als Teil eines wirtschaftlichen Notprogramms die kostenlose Verteilung der Jugendpille an die Bevölkerung stoppen. Die darauf folgenden Unruhen geraten ausser Kontrolle.

Im ersten Drittel des 22. Jahrhunderts erreichen die „Age Boomer" die Grenzen ihrer Lebenserwartung. Nach einem Jahrhundert, in dem der Alterstod mancherorts zu einem fast exotischen Ereignis geworden ist, setzt ein massenhaftes Sterben ein. Und weiterhin werden Menschen geboren und sterben, und was sie sehen, ist eine Welt voller Wunder und Probleme, wie seit je.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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