Symbolbild The Line
The Line: Das Ende eines High-Tech-Fiebertraums
Manche Pläne sind ambitioniert. Zum Beispiel John F. Kennedys Ankündigung der Mondlandung im Jahr 1962. Manche Pläne sind etwas lächerlich. Zum Beispiel Elon Musks Ansage, in den nächsten 20 Jahren eine Million Menschen zum Mars zu bringen. Manche Pläne sind völlig surreal, werden aber in den Medien trotzdem jahrelang als ernsthafte Zukunftsvision dargestellt. Dazu gehört „The Line“, das große Prestigeprojekt aus Saudi-Arabien, das megalomanischste Bauwerk aller Zeiten. Dieses Projekt dürfte nun endgültig gescheitert sein – die Saudische Regierung zog die Notbremse, der Bau wurde gestoppt. Und das ist wohl auch gut so.
Eine Linie durch die Wüste
„The Line“ hätte die Traumstadt der Zukunft werden sollen – ein gewaltiger Wolkenkratzer von 500 Metern Höhe und 170 Kilometern Länge. Pfeilgerade hätte sich dieses gigantische Bauwerk mit seiner spiegelnden Außenfassade durch die Saudische Wüste ziehen sollen, eine linienförmige Stadt für neun Millionen Menschen, mit einer Hochgeschwindigkeitsbahn, Sportstadien und Flugtaxis.
Das klingt ein bisschen, als würden sich technikbegeisterte 13-Jährige überlegen, was sie machen würden, wenn sie Onkel Dagoberts Fantastilliarden geschenkt bekämen. Allerdings gibt es eine ganze wissenschaftliche Disziplin, die sich mit Städteplanung befasst – und aus dieser Community kam von Anfang an wenig Begeisterung, sondern eher verzweifeltes Kopfschütteln.
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Gutes und Schlechtes
Man kann tapfer versuchen, ein paar positive Dinge in diesem Mammutprojekt zu finden: Es ist prinzipiell begrüßenswert, sich radikale, innovative Gedanken über die Stadt der Zukunft zu machen. Es ist schön, dass dabei (zumindest in Hochglanz-Prospekten) von Nachhaltigkeit und Alternativenergie die Rede war. Es ist erfreulich, dass man endlich eine Stadt ganz ohne Autoverkehr planen wollte – auch wenn die angedachten Flugtaxis wohl noch mehr Probleme mit sich bringen würden als CO2-emittierende Verbrennungsmotoren. Immerhin war eine Hochgeschwindigkeitsbahn geplant, die unter der gesamten Stadt dahinrasen sollte.
Aber die negativen Seiten sind offensichtlich: Unter welchen Umständen lohnt es sich, 500 Meter hohe Häuser zu bauen? Klar: Dort, wo Grundstücke teuer sind und auf kleinem Raum viele Menschen wohnen wollen. Wo ist das ganz sicher nicht der Fall? In der Wüste. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo Wolkenkratzer unnötiger sind – abgesehen vielleicht vom Ozeanboden.
Warum nicht „The Circle“?
Warum gibt man der Stadt die Form einer Linie? Weil man eine Linie mit einer einzigen Hochgeschwindigkeitsbahn erschließen kann, hieß es. Und jetzt überlegen wir mal: Was könnte man noch mit einer einzigen Hochgeschwindigkeitsbahn erschließen? Richtig: Einen Kreis. Das wäre schon mal deutlich besser – die Länge der nötigen Wege sinkt drastisch.
Nun könnte man natürlich auch noch auf die Idee kommen, das Innere des Kreises zu nutzen. Vielleicht mit einem zweiten und dritten Kreis. Und dann könnte man noch radiale Achsen bauen, um die Kreise miteinander zu verbinden. So wie die radialen Straßen Wiens den Gürtel mit der Ringstraße verbinden. Moment – haben wir gerade das ganz normale konzentrische System natürlich gewachsener Städte wiederentdeckt, das sich auf der ganzen Welt unzählige Male bewährt hat?
Verheerende Ökobilanz
The Line hätte zwar mit Alternativenergie betrieben werden sollen, aber die Ökobilanz wäre trotzdem verheerend – allein schon wegen des absurden Materialbedarfs beim Bau. Die ganze Stadt müsste ständig gekühlt und belüftet werden, Stromausfälle wären lebensgefährlich. Ein Ausfall der Hochgeschwindigkeitsbahn würde die ganze Stadt lahmlegen – eine Ausweichlinie gibt es nicht. Der Wasserbedarf wäre gigantisch – wie man diese Infrastrukturprobleme gelöst hätte, war unklar. Gleichzeitig wäre The Line eine kaum überwindbare Barriere für die Tier- und Pflanzenwelt der Wüste – mit unklaren ökologischen Folgen. Auch wie sich Winde auswirken würden, ist schwer zu sagen.
Es ist schön, wenn unkonventionelle Ideen entwickelt werden. Gerade der europäischen Gesellschaft wird oft vorgeworfen, zu wenig technikfreundlich zu sein, zu wenig wagemutig, zu wenig High-Tech-optimistisch. Das mag schon stimmen. Wir sollten große Träume wagen. Aber The Line zeigt: Nur die Bereitschaft zum Träumen allein hilft niemandem. Man muss auf Basis wissenschaftlicher Fakten träumen – sonst bleibt am Ende nur ein Fiebertraum übrig, und eine Menge umsonst aufgegrabener Sand mitten in der Wüste.
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