Mehr Mut zum Fehler
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr!
Ich saß im Hörsaal und wunderte mich. Es war meine erste Vorlesung, ich hatte gerade mein Physikstudium begonnen und sah einem alten, erfahrenen Professor dabei zu, wie er eine bedrohlich große Tafel mit verwirrender Mathematik vollschrieb. Aber da, in der dritten Zeile – das sah doch seltsam aus. War das ein Fehler, oder hatte ich bloß etwas nicht verstanden?
Ich selbst war zu feige, den Professor zu unterbrechen, aber eine Studienkollegin neben mir klopfte auf ihr Pult, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen: „Entschuldigung, dort in der dritten Zeile, sollte da nicht x Quadrat stehen?“ Der Professor sah kurz hin und sagte bloß: „Ach ja, richtig. Vielen Dank, Frau Kollegin“, besserte die Zeile aus, und machte weiter.
Eigentlich war dieses Verhalten völlig selbstverständlich, aber für mich war das damals irgendwie neu: Jemand, der sich dafür bedankt, dass man ihm einen Fehler nachweist! Kein Herumdrucksen, kein Schönreden, kein verlegenes Schweigen. Und obwohl er Jahrzehnte mehr wissenschaftliche Erfahrung hatte, sprach er die erstsemestrige Studentin demonstrativ mit „Frau Kollegin“ an – auf verbaler Augenhöhe. Diese Haltung fand ich damals ungeheuer beeindruckend.
Irrtum gehört dazu
Das ist vielleicht das Allerwichtigste am wissenschaftlichen Arbeiten: Wer mich darauf aufmerksam macht, dass ich einen Fehler gemacht habe, ist kein Gegner, sondern ein Verbündeter. Er hilft mir, mein Ziel zu erreichen. Fehler muss man anerkennen, zugeben und ausbessern, dann sind sie keine Schande. Niemand wird dafür ausgelacht, sich geirrt zu haben. Ausgelacht wird man höchstens dafür, einen längst nachgewiesenen Fehler starrköpfig immer noch zu verteidigen.
Wenn Anfang 2020 jemand COVID-19 für harmlos hielt, lag zwar falsch, muss sich dafür aber sicher nicht schämen. Damals wusste man noch wenig über die neue Krankheit – die These „das ist nicht schlimmer als die Grippe“ war damals noch durchaus rational haltbar. Doch als dann im Lauf der Zeit immer mehr Daten bekanntwurden, die ein deutlich grimmigeres Bild der Pandemie präsentierten, hätte man irgendwann die Meinung ändern und einen Fehler zugeben müssen. Wenn heute jemand dieselbe These noch immer vertritt, dann ist das kein bloßer Irrtum mehr, sondern starrköpfiges Ignorieren von Tatsachen.
Je ehrlicher wir mit unseren eigenen Fehlern umgehen, umso größer ist unsere Chance, dass wir uns als Gesellschaft auf die richtigen Dinge einigen. Wir müssen es einander daher möglichst einfach machen, Fehler zuzugeben. Wer seine Meinung ändert, wer sich von seinen früheren Ansichten distanziert, wer offen sagt, falsch gelegen zu sein, sollte nicht als meinungsschwach oder wankelmütig kritisiert werden. Im Gegenteil: genau dieses Verhalten hat unser Lob verdient.
Selbst wenn jemand früher eine ziemlich bizarre Meinung vertreten hat – die passende Reaktion auf einen Sinneswandel ist nicht „Warum hast du so lange an so etwas Dummes geglaubt?“ sondern „Gratuliere! Toll, dass du die Sache jetzt vernünftig siehst!“ Und wenn uns jemand einen Fehler nachweist, sollten wir nicht grimmig zurückschießen, sondern dankbar sein.
Der gute Vorsatz zählt
Natürlich gelingt das nicht immer – auch nicht in der Wissenschaft. Wissenschaft wird von Menschen betrieben, und Menschen sind nun einmal eitel, streitsüchtig und egoistisch. Selbstverständlich ärgert man sich, wenn man bei einem wichtigen Fachvortrag auf einen peinlichen Fehler aufmerksam gemacht wird. Auch in der Wissenschaft wird manchmal gelogen, Fehler werden vertuscht, längst widerlegte Thesen werden ungerechtfertigterweise am Leben gehalten.
Aber man ist sich zumindest einig darüber, dass all das nicht gut ist. Man weiß, wie man sich grundsätzlich verhalten sollte: Faktenorientiert, offen, jederzeit bereit, etwas dazuzulernen. Dass uns das aufgrund unserer menschlichen Schwächen nicht immer gelingt, ist klar – aber es zumindest zu versuchen ist das Klügste, was wir Menschen tun können
Kommentare