Wie sicher ist die Raumstation ISS noch?
Seit 24 Jahren leben Menschen auf der internationalen Raumstation ISS. Nach so langer Zeit sollte es niemanden überraschen, dass diese immer mal wieder mit Wehwehchen zu kämpfen hat. Ein Leck hier, ein undefiniert toxischer Geruch da – solche Nachrichten häufen sich in den vergangenen Jahren.
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Es handelt sich bei der ISS aber nicht um einen Wohnwagen, den man schnell mal zum Rundum-Check in die Werkstatt schicken kann, sondern um eine 100-Meter-Raumstation, die in 400 km Höhe mit 28.000 km/h um die Erde saust. Deswegen drängt sich zunehmend die Frage auf: Wie sicher ist die ISS noch?
Heimwerker-Astronauten
Grundsätzlich lässt sich die ISS bisher gut reparieren. Dafür trainieren Astronauten und Kosmonauten ausgiebig. Mithilfe von Reparaturkits lassen sich etwa Lecks mit Kunstharz verschließen. Das passiert regelmäßig bei Weltraumspaziergängen oder in der Station.
Gemeinsam mit den Verantwortlichen der jeweiligen Bodenstationen gehen die Astronauten und Kosmonauten Problemen auf den Grund – sie beschreiben Geräusche und Gerüche, damit die Verantwortlichen ihrem Ursprung auf den Grund gehen können.
Zahlen und Fakten zur ISS
- Größe: 108 x 80 x 88 Meter; 1.200 m³ (davon sind 388 m³ bewohnbar), 450 Tonnen Gesamtmasse
- Flughöhe: 320 - 400 km
- Zeit für eine Erdumrundung: ca. 94 Minuten
- Bauzeit: 1998 bis 2010
- Anzahl der Module: Aktuell gibt es 18 unter Druck stehende Module, die von Astronauten ohne Raumanzug genutzt werden können
- Beteiligte Weltraumagenturen: USA, Russland, Japan, Europa, Kanada
Bei Lecks, durch die Luft verloren geht, steht man vor einer großen Herausforderung. Die Erste ist, sie zu finden. Dafür wird zuerst ermittelt, in welchem Bereich ein Druckabfall herrscht, was sich mithilfe von Sensoren vom Boden aus gut ermitteln lässt. Hat man das identifiziert, nutzt man die Schwerelosigkeit, um die undichte Stelle zu finden. 2021 konnte ein Leck mit einem Teebeutel gefunden werden, der zur undichten Stelle gezogen wurde.
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Russische Module aus den 90ern
„Die Leckage im russischen Modul gibt es schon länger. Die russischen Module sind die ältesten, teilweise baugleich mit Systemen aus der MIR-Zeit“, beschreibt Volker Schmid von der deutschen Weltraumbehörde DLR das Problem gegenüber der futurezone. Eines der Problem-Module, Swesda, wurde 1998 fertiggestellt.
Der Verschleiß macht sich zunehmend bemerkbar. „Es gibt einen mechanischen Lastwechsel beim Ab- und Andocken, was über Jahrzehnte Mikrorisse verursacht“, sagt Schmid. Hinzu komme die permanente Belastung durch Temperaturwechsel. Auf der Nachtseite hat man bis zu 180 Grad minus, auf der Sonnenseite bis zu 150 Grad plus. Alle 45 Minuten findet der Wechsel statt, was das Material strapaziert.
Gefahr durch Einschläge
Natürlich ist die gesamte ISS immer einem Risiko ausgesetzt – sei es durch die gefährliche Strahlung im All oder Weltraumschrott, der die Station treffen und schwer beschädigen könnte. „Die Station ist schadenstolerant für Teilchen bis 1 cm. Wir können von Bodenstationen aus aber erst Objekte im Weltraum ab 10 cm verfolgen“, sagt Schmid. Objekten, die größer als 1 cm aber kleiner als 10 cm sind, kann die ISS also nicht bewusst durch Kurskorrektur ausweichen, weshalb immer die Gefahr besteht, dass solche Teilchen die Station ohne Vorwarnung treffen und beschädigen.
In einem neuen Bericht der NASA sind diese Einschläge von Weltraumschrott oder Asteroiden ein Faktor bei der Frage, ob die Raumstation noch bis 2030 betrieben werden kann. Schäden dadurch seien ein hohes Risiko und die Schutzschilde zu teuer, um sie aufzurüsten, heißt es.
Sicherer Hafen
Für Notfälle gibt es Protokolle, um die Astronauten zu jeder Zeit in Sicherheit bringen zu können. Sie begeben sich dann nach Kontakt zur Bodenstation in „Safe Havens“ (sichere Hafen). Darunter fällt jeder Ort an Bord der ISS, der über Kommunikationsinfrastruktur, Computeranbindung, Schutzausrüstung und einen direkten Weg zu einem Raumschiff verfügt, schreibt die NASA.
In der Regel werden die angedockten Raumschiffe selbst als Safe Haven verwendet. Russische Sojus-Kapseln haben 3 Plätze, die Dragon von SpaceX hat 4 – zur Not können aber auch ein oder 2 Personen mehr Platz finden. „Bei höchster Warnstufe begibt sich die Crew in die Raumschiffe, um abdocken und eine Notlandung machen zu können. So kommt man relativ schnell weg von der Station“, erklärt Schmid.
Passiert ist das noch nicht, 2021 stand man aber kurz davor. Damals drohte die ISS mit Weltraumschrott zu kollidieren. Die Bodenstationen wiesen die Besatzung an, sich in ihren Raumanzügen in die angedockten Kapseln zu begeben und im Notfall sofort auf die Erde zurückzukehren.
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Im selben Jahr wurde erstmals überhaupt in der Geschichte der ISS ein sogenannter „Raumschiffnotfall“ ausgelöst. Nachdem die Triebwerke des russischen Nauka-Moduls ohne Vorwarnung zündeten, drehte sich die Station unkontrolliert um die eigene Achse. Kritisiert wurde damals, dass man viel zu spät darauf aufmerksam wurde.
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50 "Problembereiche"
Trotz dieser Vorfälle wurde die Verlängerung des Betriebs der Raumstation bis 2030 beschlossen. Der aktuelle NASA-Bericht lässt aber Zweifel aufkommen, ob das noch möglich ist. Probleme sind, neben einschlagenden Teilchen, die Versorgungssicherheit, möglicherweise bald nicht mehr verfügbare Ersatzteile und die bereits bestehenden Lecks.
Insgesamt wurden 50 „Problembereiche“ identifiziert, die vor allem mit den Lecks zu tun haben, wie die NASA der Washington Post mitteilte. Diese würden zwar weiterhin repariert und verschlossen, man stuft das Risiko aber inzwischen auf höchster Stufe ein. Deswegen bleiben die Astronauten derzeit über Nacht im US-Segment in der Nähe ihrer Raumkapsel, falls eine Evakuierung nötig wird.
Muss das Modul gesperrt werden?
Die Zukunft der ISS dürfte sich an einem Scheidepunkt befinden. Punkt Nummer 1, der zu klären ist, ist die Einschätzung der Leckage. Die NASA und die russische Weltraumbehörde Roskosmos können sich nicht einigen, ab wann ein Leck so stark wird, dass ein Modul gesperrt werden muss. Die NASA sieht die Grenze schon bei 1,1 kg entweichender Luft pro Tag.
Deshalb wird die aktuelle Situation von der US-Raumfahrtagentur als „Top-Sicherheitsrisiko“ einschätzt. Täglich verliert der Service Module Transfer Tunnel am russischen Swesda-Modul 1,7 kg Luft. Entdeckt wurde es 2019, damals waren es noch 0,45 kg.
„Wenn die Leckrate ein tolerables Maß überschreitet, wird das Modul druckdicht verschlossen. Das heißt aber nicht, dass es abgeschaltet wird, sondern dass man es vielleicht nur noch von außen betreiben kann“, erklärt Schmid die Vorgehensweise. Betreten kann man es dann nur noch mit einem Raumanzug.
Die Zukunft der ISS ist eine Geldfrage
Der neue Bericht macht vor allem klar, dass jedes der genannten Probleme vornehmlich finanzieller Natur ist. Hätte man genug Geld, könnte man mehr Raumschiffe für den Güter- und Personentransport von und zur ISS betreiben, mehr Ersatzteile herstellen und bessere Schutzschilde anbringen. Die NASA steckt jährlich etwa 3 Milliarden Dollar in die ISS, wovon mehr als die Hälfte für den Transport anfällt.
Trotzdem hat man nur ein Typ Raumschiff zur Verfügung, die Crew-Dragon-Kapsel des privaten Unternehmens SpaceX. Fällt sie aus, bzw. das Falcon-Startsystem von SpaceX, ist man erneut auf Russland angewiesen. Deren Sojus-Kapseln sind allerdings längst nicht mehr so zuverlässig, wie früher. Mit Boeings Starliner ist kurzfristig nicht zu rechnen.
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Ob sich diese Situation in den nächsten 5 Jahren ändern wird, ist fraglich. Russland hat sich bisher nicht zum Weiterbetrieb der Station bis 2030 verpflichtet. Die beiden ISS-Segmente (das US Orbital Segment und das russische Segment) sind so konstruiert, dass sie zusammen funktionieren. Sie zu trennen wäre ein logistischer Albtraum, der die Sicherheit der Station gefährden könnte. Ohne Russland ist der Weiterbetrieb der Station damit kaum denkbar.
Alle Weltraumagenturen streben den Betrieb neuer Raumstationen an, darunter etwa der Lunar Gateway zwischen Mond und Erde, an dem NASA und ESA beteiligt sind. Ob die Agenturen einen Mehrwert darin sehen, weiter Geld in die ISS zu investieren, um die Sicherheit der Besatzung zu garantieren, oder ob sie das Forschungslabor im All doch schon früher in den Ruhestand schicken, wird vermutlich eine Kosten-Nutzen-Rechnung entscheiden.
Die Frage, ob die ISS noch sicher ist, lässt sich jedenfalls temporär mit: "Ja" beantworten. Die Einschränkungen werden allein durch das hohe Alter und die zunehmend schwerere Reparierbarkeit der Station weiter zunehmen. Das Leben der Besatzung wird durch den Weiterbetrieb aber nicht riskiert, da die Station unter permanenter Beobachtung steht und die Crew jederzeit notlanden kann.
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