Wir haben es versemmelt
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Europa und die USA! Wir sind doch die Besten! In der Nobelpreisstatistik, im Herrentennis, eigentlich überall! Und nun sagt man uns, dass die COVID-Zahlen bei uns schlechter aussehen als im Rest der Welt? Da kann doch etwas nicht stimmen!
Wir wachsen mit einem Gefühl unanfechtbarer westlicher Überlegenheit auf, und das macht es schwierig, mit klarem Kopf auf andere Weltgegenden zu blicken. Wir sehen erstaunlich niedrige Infektionszahlen ferner Länder, und reflexartig durchzuckt uns der Gedanke: Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen! Vermutlich wurde dort nicht ordentlich getestet! Wenn sogar wir die Sache nicht in den Griff bekommen, dann kann das dort logischerweise erst recht nicht gelingen!
Das ist vorurteilsbeladener Unfug. Selbstverständlich gibt es einzelne Länder, in denen keine zuverlässigen COVID-Zahlen erhoben werden. Aber einfach zu sagen „Wer bessere Zahlen hat als ich, der muss geschummelt haben“, erinnert an einen US-Präsidenten, an dem wir uns kein Beispiel nehmen sollten. Viele Staaten sind mit COVID-19 besser umgegangen als wir, das ist eine Tatsache.
Aber natürlich wäre es auch dumm, den gegenteiligen Fehler zu machen. Wer die aufgeklärte westliche Gesellschaft zum Übel erklärt, sich über das kaltherzige Joch von Wissenschaft und Kapitalismus beschwert und andere Weltgegenden romantisiert, verbreitet genauso vorurteilsbeladenen Unfug. Die Länder, die gut durch die Pandemie gekommen sind, haben das nicht durch Magie, Aberglauben oder esoterisches Händchenhalten geschafft, sondern durch rationales Denken, gut funktionierende Verwaltung und wissenschaftsbasiertes Handeln. Man hat uns dort genau in jenen Punkten übertroffen, die wir für unsere Stärke halten.
Musterland Vietnam
Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist Vietnam. Eigentlich hätte man dort hohe Infektionszahlen erwarten müssen: Das Land hat fast 100 Millionen Einwohner, es grenzt an das COVID-Ursprungsland China, die Wirtschaftsleistung pro Kopf beträgt weniger als ein Zehntel des mitteleuropäischen Niveaus. Trotzdem verzeichnet das Land in den neun Monaten seit Ausbruch der Pandemie weniger Coronatote als man in den USA derzeit pro Stunde zählt.
Das hat einen einfachen Grund: Vietnam war vorbereitet. Die Pandemie-Pläne lagen bereits in der Schublade. Vietnamesische Forschungsteams entwickelten rasch eigene PCR-Tests. Mit konsequentem Contact-Tracing wurden Risikopersonen gefunden. Weil man damit sehr früh begann, als es noch nicht viele Fälle gab, war es noch möglich, sicherheitshalber viele Kontaktpersonen in Quarantäne zu schicken.
Trotz sehr geringer Fallzahlen gab es Einschränkungen im öffentlichen Verkehr und im Handel, ein totaler Lockdown war nicht nötig. Die Regierung legte großen Wert auf transparente Kommunikation – schon zu einem Zeitpunkt, in der COVID-19 in Europa noch voller Überzeugung mit der Grippe verglichen wurde. Ein Popsong über das richtige Händewaschen wurde produziert, er wurde zum Hit.
Zugeben statt schönreden
Was sagt uns das nun? Wir können natürlich Ausreden suchen, um uns einzureden, dass wir irgendwie doch überlegen sind. Wir können behaupten, die Regeln in Vietnam seien überzogen gewesen und Freiheit sei wichtiger als Gesundheit. Dabei wird übersehen: Die allerradikalste Freiheitseinschränkung ist immer noch der Tod.
Die andere Möglichkeit ist zuzugeben: Wir haben es versemmelt. Wir hatten die nötigen Informationen, das nötige medizinische Wissen und das nötige Geld. Aber wir, mit unseren hochentwickelten Verwaltungsstrukturen haben es nicht geschafft, richtig zu reagieren.
Gerne blicken wir in Europa mit Stolz auf unsere wissenschaftlichen Leistungen, auf unser hochentwickeltes Gesundheitssystem und auf unsere Tradition, Probleme mit rationalem Verstand zu lösen. Das ist auch gut so. Aber jetzt müssen wir erkennen: Andere gehen mit denselben Problemen wissenschaftlicher und rationaler um.
Wir haben viel zu viel Zeit mit der Diskussion vergeudet, ob Deutschland oder Schweden besser durch die Pandemie gekommen ist. Die wirklichen Vorzeigestaaten liegen aber ganz wo anders. Um das anzuerkennen, müssen wir vielleicht ein bisschen europäische Arroganz hinunterschlucken, aber nur so können wir dazulernen und besser werden. Wir hätten es nötig. Sonst sind wir bei der nächsten Pandemie wieder das Schlusslicht der Welt.
Zur Person
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen.
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