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iPhone 11 im Test: Apple hat's endlich kapiert

Alle Jahre wieder heißt es im Herbst: Die neuen iPhones sind da. Noch immer profitiert Apple von einem gewissen Hypefaktor in den Medien, aber auch von seiner treuen Kundschaft. Diese ließ sich in den vergangenen Jahren fast alles gefallen – die Innovationen wurden weniger, das Design uninspirierter, dafür stiegen aber die Preise. Wer das Apple-Topmodell haben wollte, musste kräftig blechen.

Fragwürdige Strategie

Während das iPhone 7 im Jahr 2016 noch ab 760 Euro zu haben war, sprengte Apple im darauffolgenden Jahr mit dem iPhone X ab 1149 Euro sämtliche bis dahin geltende Preisobergrenzen. Mit der Preisexplosion konnte Apple zunächst die leicht abflauenden iPhone-Verkäufe kompensieren. Die Strategie erwies sich allerdings nicht als besonders nachhaltig. Zuletzt sanken die iPhone-Umsätze im dritten Quartal 2019 von 29,5 Milliarden Dollar auf 26 Milliarden Dollar. Zum ersten Mal seit 2012 machte Apple mit dem iPhone weniger als die Hälfte seines Umsatzes.

Das im Vorjahr überraschend eingeführte und defensiv vermarktete iPhone Xr war ein erstes Zugeständnis, dass auch Apple-Kunden, die 850 Euro ausgeben, etwas mehr für ihr Geld erwarten dürfen als - wie beim iPhone 8 - den dritten Aufguss eines in die Jahre gekommenen Modells. In diesem Jahr geht Apple nun einen Schritt weiter und spendiert auch dem Einsteiger-Modell Technologien, mit denen es sich nicht vor den teureren Modellen iPhone 11 Pro und iPhone 11 Pro Max zu verstecken braucht.

Aus iPhone Xr wird iPhone 11

Rein äußerlich hat sich zum Vorgängermodell iPhone Xr wenig getan. Neben Schwarz, Weiß und Rot gibt es die Glasrückseite plus den an die Farbe angepassten Aluminiumrahmen auch in blassem Grün, Gelb und Violett. Das freundlicherweise von A1 zum Testen bereit gestellte weiße iPhone 11 gefällt mir persönlich am wenigsten, da der graue Aluminiumrahmen das Gerät eine Spur weniger durchgestylt und auch weniger hochwertig erscheinen lässt als bei den anderen Farbmodellen.

Auch sonst ist vieles gleich geblieben. Wiederum erhält man ein für iPhone-Verhältnisse relativ großes Gerät mit 6,1 Zoll Display. Anders als bei den Pro-Modellen, die mit OLED ausgestattet sind, setzt Apple erneut auf LCD und die bereits vom iPhone 8 bekannte 326 ppi Auflösung. Die offensichtlichste Neuerung findet sich auf der Rückseite, wo jetzt statt einer zwei Kameras verbaut sind.

Kameras: Apple macht die Nacht zum Tag

Damit sind wir bereits beim wahren Killer-Feature des iPhone 11: Foto- und Videoaufnahmen. Am Tag liefern die Apple-Smartphones seit jeher gut ab, in der Nacht waren Geräte der Android-Konkurrenz längst besser. Das ändert sich mit dem iPhone 11 nun dramatisch. Der neue Nachtmodus liefert durch eine Kombination von längerer Belichtungszeit, Bildstabilisatoren und zusätzlicher Software verblüffend tolle Bilder. Der Vergleich etwa zu meinem iPhone 8 ist eklatant.

Egal, ob die beleuchtete Wiener Karlskirche, die mir ihren weißen Säulenornamenten ein schwieriges Motiv abgibt, oder der in warmen Farben getauchte Musikverein – die Bilder werden selbst dann nicht verwackelt, wenn man drei Sekunden Belichtungszeit einstellt und beim Fotografieren halbwegs still hält. Besonders gut gefällt mir dabei, dass die Farben natürlich bleiben. Praktisch ist auch, dass das iPhone 11 die notwendige Belichtungszeit automatisch erkennt. Man kann manuell adjustieren, muss das aber nicht.

Weitwinkel und Slofie

Ein absoluter Gewinn ist auch die Ultraweitwinkel-Kamera mit ƒ/2.4 Blende, die neben der herkömmlichen Weitwinkel-Kamera (ƒ/1.8 Blende) verbaut ist. Damit gelingen tolle Landschaftsaufnahmen und auch Panoramafotos. Aber auch in Gebäuden und zum Experimentieren mit extravaganteren Blickwinkel auf Gegenstände und Personen ist der Ultraweitwinkel-Modus eine praktische Ergänzung.

Neben fünffachem digitalen Zoom kann man nun zweifach auch optisch Zoomen. Schnell an seine Grenzen stößt die Weitwinkelkamera aber bei schlechtem Licht. Da sie nicht auf den Nachtmodus zurückgreifen kann, ist dieser Modus bei Aufnahmen in der Dunkelheit eigentlich unbrauchbar.

Zu einem absoluten Hit könnte sich die Zeitlupen-Funktion der Frontkamera entwickeln, die Selfies alt aussehen lässt. Mit der stark verbesserten Kamera (12 statt 7 Megapixel, 4K statt 1080p) kann man beeindruckende und witzige Superzeitlupen-Videos drehen, die in den kommenden Monaten und Jahren Social-Media-Seiten überschwemmen werden. Kein Wunder, dass Apple das mögliche Phänomen marketingtechnisch ausschlachtet und dafür gleich die Bezeichnung Slofie (Slow-Motion Selfie - manchernorts auch Slowfie) erfunden hat.

Wackelfreie Videos

Auch sonst führt Apple den ohnehin bereits eingeschlagenen guten Weg im Bereich Videoaufnahmen fort. Hier fallen die Verbesserungen – etwa bei der Bildstabilisation - im Vergleich zum iPhone Xr nicht so stark ins Gewicht. Mit optionalem Ultraweitwinkel, 12 statt 7 Megapixel für Video und 4K statt 1080p sind die Unterschiede aber doch spürbar. Neu beim iPhone 11 ist zudem, dass die Audioaufnahme dem Bild beim Zoom folgt, etwa bei einem Konzert. Das habe ich für diesen Test allerdings nicht ausprobiert.

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Innenleben und Akku

Der Rest sind Kleinigkeiten. Dass mit dem A13 Apples neuester Bionic Chip verbaut ist, merkt man – vom Nachtmodus einmal abgesehen – im Alltag kaum. Im direkten Vergleich mit einem iPhone 8 starten manche Apps einen Bruchteil schneller. Das ist aber absolut vernachlässigbar. Der Unterwasserschutz beträgt nun 2 statt 1 Meter bis zu 30 Minuten (IP68). Darauf verlassen würde ich mich aber dennoch nicht.

Der ohnehin schon lang haltende Akku des iPhone Xr reicht beim iPhone 11 Apple zufolge nun eine Stunde länger. In der kurzen Testdauer konnten wir die Angaben nicht seriös überprüfen. Es deutet aber nichts darauf hin, dass die Akkulaufzeit einen Grund zur Sorge geben dürfte – zumal sich ja auch am mit 326 ppi vergleichsweise gering aufgelösten und damit energiesparenden Display (iPhone 11 Pro: 458 ppi) nichts geändert hat.

Display: LCD statt OLED

Dass Apple dem Display verhältnismäßig wenige Pixel spendiert, wurde ja schon beim iPhone Xr beweint. Wie einige Videos auf YouTube zeigen, können User den Unterschied zum höher aufgelösten iPhone X/Xs/11 Pro allerdings kaum bis gar nicht sehen. Die Pixeldichte ist ausreichend, um auch feine Schriften und Linien gestochen scharf darzustellen.

Die Farbwiedergabe ist für LCD-Technologie makellos gelöst. Im Vergleich zum kleineren iPhone 8 sorgt das größere Display trotz gleicher Technologie aber für größere Spiegeleffekte im Freien. Auch die Leuchtkraft bzw. Helligkeit könnte in der höchsten Stufe noch besser sein.

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Das größte Manko im Vergleich zu den OLED-Bildschirmen der teureren iPhones ist aber das fehlende echte Schwarz. Das fiel bisher vielleicht nicht so stark ins Gewicht. Der in iOS 13 umgesetzte, systemweite Dunkel-Modus kann seine wahren Stärken mit LCD allerdings nicht ganz ausspielen – sei es nun optisch oder auch, was den akkuschonenden Betrieb betrifft.

Haptik und Design

Da das iPhone 11 im Prinzip in dieser Hinsicht eine Neuauflage des iPhone Xr ist, will ich diesen Aspekt kurz halten. Ein Jahr später bleibt das Design so wenig inspirierend wie im Vorjahr. Der Notch ist schon längst überholt. Auch nervt es immer noch, dass man das iPhone nicht stabil auf den Tisch legen kann, weil die Kameras hervorstehen.

Ein im Display integrierter Fingerprint-Sensor fehlt, man ist allein auf FaceID angewiesen. Und: mir persönlich ist das Gerät zu groß und zu schwer. Dass es das iPhone nicht in der Größe des iPhone 8 oder des iPhone 11 Pro gibt, ist ein großer Wermutstropfen.

Welches iPhone für wen?

Für welche iPhone-Nutzer sich der Umstieg lohnt, ist nicht so leicht zu beantworten. Alle, die ein iPhone 6, 6s oder 7 verwenden, können bedenkenlos zuschlagen. Wer vor zwei Jahren ein iPhone 8 gekauft hat, kann sich überlegen, dieses zu verkaufen oder weiterzugeben, um von den neuen Kameratechnologien zu profitieren. Wer die kleinere Geräteform gewohnt ist, sollte das iPhone 11 aber zumindest im Geschäft in die Hand nehmen, ob die Größe einem tatsächlich zusagt.

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Für Inhaber von iPhone X/Xs lohnt sich der Umstieg auf ein iPhone 11 eher nicht. Wer ein neues Gerät braucht und sich nach einer günstigeren Alternative umsieht, kann auf das iPhone 8 zurückgreifen, das Apple immer noch offiziell im Sortiment führt. Es ist bereits ab 529 Euro zu haben. Nicht empfehlenswert ist hingegen eine iPhone Xr zu kaufen. Es ist nur geringfügig günstiger als das iPhone 11, aber technisch deutlich unterlegen.

Fazit: Apple geht in die richtige Richtung

Mit seiner teilweise absurden Preispolitik hat es Apple seinen Anhängern in den vergangenen zwei Jahren nicht leicht gemacht. Mit dem iPhone 11 gibt es nun erstmals seit dem iPhone 7 wieder ein leistbares Modell, mit dem man kaum technologische Abstriche machen muss. Dass Apple seine neuesten Kameratechnologien sowie den ausgezeichneten Nachtmodus im „Einsteiger“-Modell verbaut, ist absolut positiv.

Mit 800 Euro kostet die 64-Gigabyte-Variante zudem 50 Euro weniger als das iPhone Xr bei seinem Marktstart im Vorjahr. Auch das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wer von den tollen Foto- und Videooptionen Gebrauch machen möchte, sollte aber gleich die Variante mit 128 Gigabyte nehmen, die nur 50 Euro mehr kostet.

Ob das iPhone 11 Pro und das iPhone 11 Pro Max für OLED-Bildschirm und eine zusätzliche Teleobjektiv-Kamera einen Aufpreis von mehreren Hundert Euro rechtfertigen, ist zumindest zweifelhaft. Wir werden das separat testen.

Disclaimer: Das iPhone 11 wurde uns freundlicherweise von A1 für einen begrenzten Zeitraum zum Testen zur Verfügung gestellt.

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Martin Jan Stepanek

martinjan

Technologieverliebt. Wissenschaftsverliebt. Alte-Musik-Sänger im Vienna Vocal Consort. Mag gute Serien. Und Wien.

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Martin Jan Stepanek

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