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Science

Chatbot aus Österreich erkennt potenzielle Corona-Erkrankung

Wer kennt das nicht? Man verspürt diffuse Beschwerden, ein seltsam zuckender Muskel hier, ein stechender Schmerz da. Der Gang ins Internet zu „Dr. Google“ fördert meist eine potenziell tödliche Krankheit zutage, die einen auf den nächsten Arzttermin bangen lässt. Auch hinsichtlich Covid-19 bleibt die Verunsicherung groß. Generische Symptome wie Fieber, Husten und Müdigkeit, die das Virus mit anderen Krankheiten teilt, machen eine Selbstdiagnose in vielen Fällen schwierig.

Viele Fehldiagnosen

Doch auch Ärzte tun sich bei der richtigen Diagnose von Patienten oft schwer, gerade wenn es um das Erkennen seltener Krankheiten geht. „Jede 7. Diagnose wird falsch oder zu spät gestellt. Angesichts über 20.000 bekannter Krankheiten ist das auch wenig verwunderlich“, erklärt der Mediziner Jama Nateqi im futurezone-Interview. Etwa 1,5 Millionen Menschenleben könnten mit besserer Diagnostik pro Jahr gerettet werden, rechnet er vor. Dabei helfen soll Technologie, konkreter künstliche Intelligenz.

Symptoma-Gründer Jama Nateqi

Was Nateqi gemeinsam mit Co-Gründer Thomas Lutz in 14 Jahren Forschungsarbeit auf die Beine gestellt hat, ist tatsächlich verblüffend. Mit einem mittlerweile 70-köpfigen Team entwickelten sie im oberösterreichischen Attersee die medizinische Suchmaschine Symptoma, die auf Basis eingegebener Symptome eine Liste möglicher Krankheitsursachen liefert – gereiht nach Wahrscheinlichkeiten.

Gratis und anonym

Das Besondere an dem digitalen Assistenten, der die strenge Zertifizierung eines Medizinprodukts durchlaufen hat: Er basiert auf Millionen von medizinischen Publikationen und Milliarden von Verknüpfungen, was Krankheitsbeschreibungen, Symptome, aber auch Wechsel- und Nebenwirkungen von Medikamenten angeht. Auch Lebensstil, Alter und Geschlecht von Patienten werden berücksichtigt.

Genutzt werden kann Symptoma von Ärzten und Patienten. Für letztere ist der Dienst gratis. Alle eingegebenen Daten bleiben dabei absolut anonym. Weder ist eine Registrierung noch die Angabe einer E-Mailadresse erforderlich. Selbst die IP-Adresse des Benutzers wird nicht erfasst.

Großes Sprachtalent

Abgesehen von der wissenschaftlich fundierten Genauigkeit und der nüchternen Gewichtung, mit der Panik bei Patienten vermieden werden soll, punktet der als Chatprogramm konzipierte Assistent auch durch das natürliche Sprachverständnis. So kann man nicht nur Symptome eintippen, sondern auch freie Suchwörter und Sätze formulieren, aus denen die künstliche Intelligenz weitere Beschwerden oder die Krankheitsthematik erkennt.

Um der Sache auf den Grund zu kommen, stellt das Programm zusätzliche Fragen, die mit „ja“, „nein“ bzw. „weiß nicht“ beantwortet werden können. Bei der Eingabe von „Tiramisu“ etwa fragt das System nach „Bauchschmerzen“ und schlägt „Salmonellen“ als mögliche Ursache vor.

Corona-Risiko berechnen

Auf Basis der gesammelten Informationen spuckt die Suchmaschine nach wenigen Minuten eine Auflistung möglicher Krankheiten inklusive weiterführender Informationen aus. Die Bestandsaufnahme kann dem behandelnden Arzt vorgelegt werden und diesem eine zusätzliche Orientierung bieten.

Im speziellen Fall von Corona bekommen Patienten eine Einschätzung, wie hoch das Risiko einer Erkrankung ist, was die Entscheidung erleichtern soll, ob man etwa die Hotline 1450 anruft oder sich vorerst doch keine allzu großen Sorgen machen muss. Bei der Risikobeurteilung einer Corona-Erkrankung soll die Software eine Genauigkeit von 96,32 Prozent erzielen. Auch die österreichischen Behörden greifen auf Symptoma zurück. Die Anwendung wird zudem von der Europäischen Kommission empfohlen.

Globaler Erfolg

Der Bedarf nach solchen Lösungen ist nicht zuletzt durch die Corona-Krise enorm. 10 Millionen Nutzer auf der ganzen Welt greifen im Monat auf das österreichische Chatprogramm zu, das 36 Sprachen versteht. Über die kostenpflichtige Anbindung an professionelle Ärztedatenbanken und -Plattformen wie die des Medizinverlags Thieme haben über 100.000 Ärzte, Praxen und Krankenhäuser Zugriff auf die Suchmaschine.

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Ziel der Entwickler ist es, das System in 104 Sprachen anbieten zu können. Die Firma ist an drei Standorten, in Attersee, Salzburg und Wien, vertreten. Laut eigenen Angaben operiert Symptoma seit dem Start profitabel.

Modernes Arztverständnis

Dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient sich gerade stark verändert, steht für Nateqi außer Frage. „Wenn ich zu einem Arzt gehe und ihm im wahrsten Sinn des Wortes mein Leben und meine persönliche Leidensgeschichte anvertraue, führt das zu einer großen Erwartungshaltung, die man auch als Arzt nicht enttäuschen möchte“, erklärt der Mediziner.

Der Patient hat ja den Schmerz, sein Leben ist in Gefahr. Er hat jedes Recht auf alle Informationen, die zur Verfügung stehen. In vielen Fällen, gerade auch bei seltenen Krankheiten, haben sich Patienten, extrem gut informiert. Selbst wenn die wissenschaftliche Einordnung nicht immer leicht ist, muss ich das als Arzt anerkennen und mich damit auseinandersetzen“, sagt Nateqi.

Personalisierte Medizin

Dazu komme ein Paradigmenwechsel zur sogenannten Präzisionsmedizin. „Studien zeigen, dass wir zu viele Patienten über einen Kamm scheren. Bei Diabetikern etwa schlagen die Standardmedikamente nur zu 43 Prozent an. Um herauszufinden, warum das so ist und für wen welche Behandlung die richtige ist, müssten viel mehr echte Patientendaten, etwa zum Lebensstil oder zur Konstitution der Behandelten erhoben und interpretiert werden. Man muss verstehen, welche Muster zu einer bestimmten Diagnose geführt haben.  So eine personalisierte Behandlung ist ohne digitale Schnittstellen und künstliche Intelligenz unmöglich“, sagt Nateqi.

Diese Serie erscheint in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung der Forschungsförderungsgesellschaft  (FFG).

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Martin Jan Stepanek

martinjan

Technologieverliebt. Wissenschaftsverliebt. Alte-Musik-Sänger im Vienna Vocal Consort. Mag gute Serien. Und Wien.

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