Wolfram-Schrotflinte soll Fusionsreaktoren beschützen
Die Forschung auf dem Gebiet der Kernfusion hat in den vergangenen Jahren etliche Fortschritte gemacht. Eines der größten Probleme ist aber nach wie vor nicht völlig gelöst: die Hitze und wie sie gebändigt wird.
Damit die Kernfusion stattfinden kann, muss in den Fusionsreaktoren Plasma mit gut 150 Millionen Grad Celsius gehalten werden – 10-mal heißer als die Sonne. Da würde jedes Material der Erde schmelzen, weshalb das Plasma mit einem Magnetfeld von den Reaktorwänden ferngehalten wird. Gelingt das nicht, brennt ein Plasmastrahl innerhalb kürzester Zeit ein Loch in den Reaktor. Die Reparatur könnten Wochen dauern, in der das Fusionskraftwerk stillsteht.
Um das zu verhindern, will Michael Lively eine „Wolfram-Schrotflinte“ einsetzen, berichtet das Los Alamos National Laboratory.
Flüchtende Elektronen
Das Plasma in den Donut-förmigen Tokamak-Reaktoren entsteht, indem riesige Elektromagnete einen Strom von Elektronen, geladenen Partikeln und Wasserstoff-Isotopen beschleunigen. Wenn das Plasma über 100 Millionen Grad Celsius heiß wird, beginnt die Wasserstoff-Kernfusion, die Energie in der Form von Hitze freisetzt. Diese wird nicht nur abgeleitet und mit einer Dampfturbine Strom zu erzeugen, sondern ist auch Teil der Kettenreaktion, die das Plasma am Laufen hält.
Unter idealen Bedingungen würde das Magnetfeld das Plasma im Reaktor bändigen, sodass es nicht die Wände berührt und beschädigt. Allerdings gibt es diese Idealbedingung faktisch nicht – und schon gar nicht, wenn Fusionsreaktoren aus ihrer Versuchsphase herausgehen und in größerer Stückzahl produziert werden sollen, um in Kraftwerken Energie zu erzeugen.
Schon minimale mechanische Vibrationen oder winzige Fehler im Magnetfeld können dazu führen, dass einige Elektronen heißer als das Plasma selbst werden. Diese werden „Runaway Electrons“ genannt, also flüchtende oder ausbrechende Elektronen. Zu Beginn verlaufen diese noch entlang der Linien des Magnetfelds im Reaktor. Durch weitere kleine Ereignisse kann die Instabilität schließlich so hoch werden, dass die Temperatur des Plasmas rapide sinkt. Die Magnetfeldlinien verschieben sich dabei, die Runaway-Elektronen übernehmen den Plasmastrom und ein Strahl mit 100 Millionen Grad heißem Plasma trifft die Reaktorwand.
„Das ist nicht ein kleiner Schaden, der mit der Zeit zunimmt. Ein einziger Vorfall kann ausreichen, dass der Strahl ein Loch durch die Wolfram-Wand des Reaktors schlägt und den Kühlmechanismus für die Magnete dahinter beschädigt“, sagt Lively. Das hätte nicht nur hohe Reparaturkosten zur Folge: Der Betrieb des Reaktors müsste für eine Weile eingestellt werden, was die Energieversorgung in der Gegend gefährden kann.
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Ein Wolfram-Schuss in den Reaktor
Um diese Schäden zu vermeiden, will Lively eine Technik einsetzen, die er Wolfram-Schrotflinte nennt. Wolfram ist eines der stärksten natürlichen Materialien der Welt, weshalb es auch beim Bau der Tokamak-Reaktoren verwendet wird.
Schrotflinte nennt Lively die Technik deshalb, weil er Wolfram-Partikel in der Form eines Sprays in den Reaktor schießen will. Diese sollen die Runaway-Elektronen abfangen. Laut seinen Berechnungen seien die ersten Ergebnisse vielversprechend: „Der Runaway-Strahl wird nahezu sofort zerstört“, sagt Lively.
Anhand der Berechnungen würden die Wolfram-Partikel 8 Prozent der Elektronen absorbieren. Die restlichen 92 Prozent würden zerstreut werden, sodass sie keinen konzentrierten Strahl mehr bilden können und damit nicht mehr gefährlich für die Reaktorwand sind.
Lively will außerdem herausgefunden haben, dass die Runaway-Elektronen nur eine Lebensdauer von etwa 130 Nanosekunden haben. Die Wolfram-Partikel können aber 100.000 Nanosekunden im Fusionsreaktor überleben. Das heißt: Wenn im Reaktor zum ersten Mal Runaway-Elektronen aufgespürt werden, kann ein einzelner „Schuss“ mit der Wolfram-Schrotflinte die Bildung weiterer Runaway-Elektronen lange genug verhindern, sodass sich diese nicht anhäufen, bis das Plasma wieder stabilisiert oder kontrolliert erloschen wurde, um Schäden zu verhindern.
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Kombination mit weiteren Technologien
Aktuell gibt es keine Möglichkeit, um die Bildung von Runaway-Elektronen vollständig zu verhindern. Daher könnten Methoden, wie die Wolfram-Schrotflinte, einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Kernfusion wirklich effizient zur Energieerzeugung genutzt werden kann.
Lively sieht die Schrotflinte als „letzte Verteidigungslinie“, die zusammen mit anderen Techniken genutzt wird. Anstatt viel Zeit und Geld in eine Lösung zu stecken, die Runaways völlig unterdrückt, könnte man ein günstigeres Design nutzen, dass deren Bildung teilweise verhindert. Zusammen mit der Wolfram-Schrotflinte könnte dies Schäden am Reaktor genauso verhindern.
Bisher funktioniert die Wolfram-Schrotflinte nur in Berechnungen. Laut Lively müsse im nächsten Schritt das Design entworfen werden. Wenn das fertig ist, könne es in einem Versuchs-Fusionsreaktor getestet werden. Lively spricht in seiner Studie speziell ITER und SPARC an.
ITER wird derzeit in Frankreich gebaut und soll frühestens 2034 den Betrieb aufnehmen. Der deutlich kleinere SPARC wird in der Nähe von Boston errichtet und soll schon 2026 in Betrieb gehen.
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