Ukraine setzt selbstgebaute ballistische Rakete Sapsan ein: Das steckt dahinter
„Wir verwenden bereits die Neptun, Long-Range Neptun, Palyanytsya und Flamingo. Und, um ganz ehrlich zu sein, haben wir auch begonnen Sapsan zu nutzen“. Das sagte kürzlich der ukrainische Präsident Selenskyj vor Journalisten, berichtet twz.
Der „ganz ehrlich“-Teil der Aussage, ist der spannende. Denn Sapsan ist als ballistische Rakete eingestuft. Es wäre die erste Waffe dieser Art, die die Ukraine selbst baut.
Nur eine Verwirrungstaktik?
Wann Sapsan schon eingesetzt und auf welche Ziele sie abgefeuert wurde, verrät Selenskyj nicht. „Wir wollen nicht, dass der Feind diese Details kennt. Es gibt viele Fälle, in denen unser Feind denkt, die Angriffe wären mit einer Neptun erfolgt… und wir lassen sie in diesem Glauben.“
Diese Aussage wirft den Verdacht auf, dass Sapsan womöglich gar nicht eingesetzt wurde und Selenskyj lediglich Russland verwirren will. Allerdings ist zweifelhaft, ob eine solche Verwirrungstaktik der Ukraine einen Vorteil verschafft. Russland wird jetzt nicht seine Luftabwehr abbauen, nach dem Motto: „ballistische Raketen sind zu schwer abzufangen, also lassen wir es bleiben.“ Stattdessen würde eher die Luftabwehr bei kritischen Zielen verstärkt werden, wodurch die Chance steigt, dass Marschflugkörper wie Neptun abgefangen werden – was für die Ukraine nachteilig wäre.
Von russischer Seite fehlt derzeit eine Bestätigung von Sapsan, etwa durch geborgene Trümmerteile nach einem Einschlag. Russland hat zwar schon im Mai 2023 behauptet, eine Hrim-2 abgefangen zu haben, die als Vorstufe in der Entwicklung der Sapsan zu sehen ist, aber das konnte nicht verifiziert werden.
Außerdem hat Russland in der Vergangenheit mehrfach falsche Behauptungen über Abschüsse aufgestellt, ua. vom Kriegsgerät, das noch gar nicht in der Ukraine im Einsatz war. Auch wurde mal ein Betonpfeiler bekämpft, den Russland als erfolgreiche Zerstörung eines ukrainischen Schiffs verkaufen wollte.
➤ Mehr lesen: Russland zerstört deutsche Haubitze RCH 155 – die die Ukraine gar nicht hat
Von Hrim-2 zu Sapsan
Informationen zur Sapsan (deutsch: „Wanderfalke“) sind rar, auch gibt es noch keine offiziellen Fotos. Es wird angenommen, dass es sich dabei um die Weiterentwicklung, bzw. Fertigstellung der Hrim-2 handelt, die in einer Exportvariante als Grom-2 bei Rüstungsmessen Mitte der 2010er-Jahre gezeigt wurde.
Ein Modell im kleineren Maßstab der Grom-2 bei einer Rüstungsmesse im Jahr 2016
© VoidWanderer/Wikimedia Commons
Bei der Militärparade zum ukrainischen Unabhängigkeitstag 2018 wurde ein Starter für 2 Raketen auf Lkw-Basis für Hrim-2 gezeigt. Zeitnah wurde auch ein Video zum Hrim-2-Starter veröffentlicht.
Im August 2024 verkündete Selenskyj den ersten erfolgreichen Test einer neu entwickelten ballistischen Rakete. Damals wurde der Namen nicht genannt. Heute kann man davon ausgehen, dass damit Sapsan gemeint war. Im Juni berichtete The Times, dass Sapsan im Mai 2025 eingesetzt wurde, um ein 300 km weit entferntes Ziel zu treffen – nannte aber keine Quelle. Von der Ukraine gab es bisher keine offizielle Bestätigung dieser Aussage und Selenskyjs aktuelle Kommentare zu Sapsan sind zu vage, um den Einsatz im Mai anzuerkennen.
Reichweite vermutlich bis zu 500 km
Offizielle technische Daten zu Sapsan fehlen. Anhand der Daten von Hrim-2 und nicht bestätigten Berichten, liegt die Reichweite bei mindestens 300 km, mit der Annahme, dass es auch bis zu, bzw. über 500 km sein könnten.
2023 sagte der damalige ukrainische Verteidigungsminister Resnikow, dass man an Raketen mit einer Reichweite von bis zu 1.000 km arbeitet. Es ist zwar denkbar, dass er damit Sapsan meint, aber eher unwahrscheinlich, dass Sapsan in der aktuellen Ausführung tatsächlich schon diese Reichweite hat. Bis zu 1.000 km wird üblicherweise als Definition für eine SRBM genommen – Short Range Ballistic Missile, also eine ballistische Kurzstreckenrakete. Resnikow wollte vermutlich nur sagen, dass man an einer SRBM arbeitet.
➤ Mehr lesen: Spektakulärer Fehlschlag: Russische Atomrakete explodiert kurz nach Start
Abfangen schwer, aber nicht unmöglich
Ballistische Raketen sind aktuell als die Königsklasse unter den Raketen zu sehen. Durch die ballistische Flugbahn fliegen sie sehr hoch und erreichen im Zielanflug eine hohe Geschwindigkeit. Zudem schlagen sie aus einem sehr steilen Winkel ein. Das alles macht ballistische Raketen deutlich schwieriger abzufangen als normale Raketen oder Marschflugkörper.
Unmöglich ist das aber nicht. Es gibt Luftabwehrraketen, die dazu in der Lage sind, wie etwa die amerikanische THAAD, israelische Arrow-3 und russische S-500. Während iranischer Angriffe auf Israel wurde etwa das Abfangen von ballistischen Raketen in Höhen von über 50 km beobachtet. Charakteristisch dafür ist blau-pinke Explosion, die sich kreisförmig ausbreitet. In niedrigeren Höhen, bei dichterer Atmosphäre, sind die Explosionen gelb/orange.
Diese Abwehrraketen sind aber teuer. Eine THAAD-Rakete kostet etwa über 13 Millionen US-Dollar. Durch den hohen Preis und die komplexe Produktion, sind diese Abfangsysteme meist nur in geringer Stückzahl vorhanden. Es ist also herausfordernd, alle Ziele, die eine ballistische Rakete erreichen kann, mit einem entsprechenden Flugabwehrsystem zu schützen.
Quasi-ballistische Rakete
Moderne SRBMs sind meist quasi-ballistische Raketen, auch semi-ballistische Raketen genannt. Eine traditionelle ballistische Rakete, zu der etwa übliche, atomare Interkontinentalraketen zählen, steuert nur in der ersten Phase (Boost). Die mittlere Phase beginnt mit dem Ausbrennen des Triebwerks und endet mit dem Wiedereintritt in die Atmosphäre. In dieser Phase können einige ballistische Raketen eine Flughöhe von 1.000 km überschreiten.
Quasi-ballistische Raketen sind auch in der mittleren Phase steuerbar. Moderne Exemplare sind zudem in der dritten, finalen Phase noch steuerbar, wenn in einem steilen Winkel das Ziel angeflogen wird. Das erlaubt etwa das Fliegen von zufälligen Ausweichmanövern, um das Abfangen zu erschweren.
Hinzu kommt bei SRBMs, dass die Boost und mittlere Phase kürzer sind als bei anderen ballistischen Raketen. Die Luftabwehr hat also weniger Zeit, um darauf zu reagieren und das Abfangmanöver einzuleiten.
➤ Mehr lesen: Indien startet erstmals Atomrakete von Zug aus
Sapsan von Iskander-M inspiriert
Viele moderne SRBMs erreichen nicht die Höhe von 100 km, die in der Luft- und Raumfahrt als Beginn des Weltraums gesehen wird. Das ist vermutlich auch bei der Sapsan so. Denn anhand der bisherigen Daten und des Aussehens von Hrim-2/Grom-2, könnte die ukrainische Rakete stark von der russischen SRBM Iskander-M inspiriert sein.
Russische Soldaten verladen eine Iskander-M
© REUTERS / Sergei Karpukhin
Die quasi-ballistische Rakete ist in allen Phasen steuerbar und hat eine Reichweite um die 500 km. Die maximale Flughöhe liegt bei etwa 50 km, die maximale Geschwindigkeit soll bis zu Mach 7 betragen.
Sapsan soll bis zu Mach 5,2 erreichen und einen Gefechtskopf mit 485 kg haben. Bei der Iskander-M sind es zwischen 700 und 800 kg. Die Sapsan wirkt also, sofern die Leistungsdaten zutreffen, wie eine etwas abgeschwächte Iskander-M. Das könnte daran liegen, dass der Ukraine aktuell nur weniger leistungsstarke Raketentriebwerke zur Verfügung stehen.
Deutliches Upgrade zur US-Rakete ATACMS
Für die Ukraine ist Sapsan dennoch eine große Sache. Die leistungsstärkste ballistische Rakete, die bisher zur Verfügung stand, war die ATACMS. Sie wurde der Ukraine von den USA in geringer Stückzahl zur Verfügung gestellt und wird mit der Raketenartillerie MLRS und HIMARS gestartet.
ATACMS ist eine quasi-ballistische Rakete mit einer Reichweite von bis zu 300 km. Der Gefechtskopf wiegt bis zu 247 kg. Die Flughöhe beträgt 50 km, die Geschwindigkeit Mach 3. Sapsan wäre der ATACMS also überleben. Hinzu kommt, dass man bei einer Rakete aus eigener Produktion weniger stark auf Lieferungen aus den USA angewiesen ist, bzw. auf die von den USA auferlegten Regeln, was die Wahl der Ziele angeht.
HIMARS startet eine ATACMS.
© US Army
Theoretisch könnte Sapsan, zumindest nahe der ukrainischen Grenze gestartet, bis nach Moskau fliegen. Die Ziele von Sapsan sind voraussichtlich kritische militärische Einrichtungen und Infrastruktur. Denkbar sind Waffen- und Munitionsfabriken, Luftwaffenstützpunkte, Ölraffinerien und Kraft- und Umspannwerke.
➤ Mehr lesen: Nordkorea kopiert US-Raketenartillerie HIMARS und gibt ihr Atomraketen
Ein symbolträchtiges Ziel wäre, wenn die Ukraine mit Sapsan gelagerte Iskander-M-Raketen oder Startfahrzeuge zerstören würde. Die Starter im Freien zu erwischen, ist eher unwahrscheinlich, da Russland sie nur zum Abfeuern der Rakete aus den Bunkern fahren wird und sie nicht draußen geparkt lässt. Mit einem 485 kg schweren Gefechtskopf könnte aber ein Bunker Buster realisiert werden. Bei dieser Masse ist ein Durchschlagen von 1,5 Meter Stahlbeton denkbar, bevor der Sprengstoff gezündet wird.