Wenn das Bahnnetz an seine Grenzen stößt
Der Verkehr ist einer der großen Bereiche, in denen man Treibhausgasemissionen deutlich reduzieren muss, um die internationalen Ziele zur Eindämmung der Erderwärmung zu erreichen. Die neue türkis-grüne Bundesregierung hat deshalb angekündigt, ein österreichweit gültiges Jahresticket für öffentliche Verkehrsmittel einzuführen. Aufgrund dessen einfacher Preisgestaltung (1 Euro pro Tag für ein Bundesland, 2 Euro pro Tag für zwei, 3 Euro für drei oder mehr) wird es auch 123-Ticket genannt. Durch diese relativ günstigen Preise, kombiniert mit guter Öffi-Versorgung und hoher Beförderungsqualität soll die Bevölkerung künftig ihr Auto stehen lassen und vermehrt mit Bim, Bus und Bahn fahren. Aber wieviel mehr Menschen verträgt etwa das existierende Bahnnetz eigentlich?
Viele Menschen, die heute bereits in überfüllten Zügen in die Arbeit pendeln oder vor Feiertagen aus der Großstadt in die ländliche Heimat unterwegs sind, fragen sich, was da auf sie zukommt. "Zu Stoßzeiten sind unsere Züge meist zu 100 Prozent ausgelastet", erzählt Westbahn-Pressesprecherin Ines Volpert. "Auch am Freitag nachmittags sind die Züge in vielen Fällen komplett voll." Die Strecke Wien-Salzburg ist die mit Abstand beliebteste Route im heimischen Bahnnetz. 32 Prozent aller Züge der ÖBB verkehren auf dieser Verbindung.
Mehr Züge schon möglich
Zusätzliche Züge auf die Strecke zu schicken, wäre prinzipiell möglich, meint Volpert. Beschränkungen seitens des Bahnnetzbetreibers ÖBB Infrastruktur gebe es nicht. "Man muss Trassen beantragen, also quasi Fahr-Slots. Die werden dann durch die ÖBB Infrastruktur zugeteilt. Ob man eine Trasse bekommt, hängt natürlich von den Umständen ab. Auf der Strecke ist ja auch Güterverkehr und Regionalverkehr unterwegs."Im Prinzip seien der Westbahn aber hauptsächlich eigene Kapazitätsgrenzen gesetzt. "Wir besitzen acht Garnituren und fahren derzeit tagsüber im Stundentakt von Wien nach Salzburg. In den Hauptauslastungszeiten arbeiten wir auch mit Zwischenlagen, fahren also öfter als ein Mal pro Stunde. Wir könnten schon mehr Züge kaufen und zum Einsatz bringen, aber das hängt von wirtschaftlichen Überlegungen ab."
Komplexe Kapazitätsfrage
Um zu verstehen, wie viele Züge auf einer bestimmten Strecke fahren können, ist es wichtig zu wissen, wovon die Kapazität eigentlich abhängt. Die ÖBB Infrastruktur nennt hier mehrere Faktoren. Zunächst einmal sind Zugstrecken in Blöcke eingeteilt. Jeder Block darf in einer Richtung nur von einem Zug befahren werden. Der nachfolgende Zug darf erst in den Block einfahren, wenn er frei ist. Dadurch wird ein gewisser Sicherheitsabstand eingehalten.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Zugmix, der auf einer Strecke unterwegs ist. Güterzüge, Personenfern- und -Nachverkehr teilen sich meist dieselben Gleise. Die Züge fahren unterschiedlich schnell, halten unterschiedlich oft. Manchmal gibt es Überholmöglichkeiten, manchmal nicht. Ein dritter Faktor sind Zeitreserven. Ist der Zugverkehr auf einer Strecke bereits dicht gestaffelt, gibt es keine Möglichkeit, Verspätungen aufzuholen, weshalb auch hier Reserven kalkuliert werden.
Berechnungen für die Zukunft
Momentan sind im österreichischen Bahnnetz zu Spitzenzeiten rund 600 Züge gleichzeitig unterwegs, im Tagesdurchschnitt sind es 360. Wie viele Züge es in Zukunft sein werden bzw. welche Kapazität das Streckennetz bereitstellen sollte, das ließ das Verkehrsministerium (BMVIT) im Rahmen der Verkehrsprognose Österreich (VPÖ) 2025+ ermitteln. Das Strategiekonzept soll einen Überblick darüber bieten, wie sich der Verkehr in den kommenden Jahren entwickeln wird. Einflussfaktoren dabei sind die Entwicklungen der Bevölkerungsgröße und der Wirtschaft sowie geplante Bauvorhaben bei der Infrastruktur.
Entscheidende Größe sind aber auch die verkehrspolitischen Rahmenbedingungen. In der VPÖ 2025+ werden dazu zwei Szenarien angenommen. Das erste wäre keine Veränderung zum derzeitigen Zustand. Die Benutzung von Autos würde damit real nicht teurer werden. Das zweite Szenario geht von zunehmenden Nutzerkosten auf der Straße und ein verdichtetes Angebot im öffentlichen Verkehr aus - also in etwa so, wie man es bei einer Einführung eines 123-Tickets erwarten könnte. Im Szenario werden die Mehrkosten für Pkw mit 30 Prozent angenommen.
Ausbau so oder so notwendig
In beiden Szenarien würde die gesamte Verkehrsleistung ansteigen, die Österreicher sind also in jedem Fall mehr unterwegs denn je. Auf den Straßenverkehr würden in jedem Fall die meisten zurückgelegten Kilometer pro Person entfallen - Tendenz steigend. Selbst im Szenario zwei gäbe es einen Anstieg des Pkw-Verkehrs. Bahn und Regionalbusse würden bei Szenario zwei im Jahr 2025 klarerweise mehr genutzt werden. Fußgänger- und Radverkehr werden in der Prognose nicht berücksichtigt.Aber auch wenn es bei Szenario eins bleibt, würde der Bahnverkehr bis 2025 ansteigen (30 Prozent plus im Vergleich zu 2005). Die ÖBB Infrastruktur baut deshalb ihr Netz ständig aus. Die Westbahnstrecke wird etwa viergleisig ausgebaut, auf der Südstrecke werden die Reisezeiten durch Semmering- und Koralmtunnel massiv verkürzt, dazu kommt das bekannte Großprojekt Brennerbasistunnel. Den größten Aufholbedarf sieht die ÖBB Infrastruktur laut ihrem auf dem VPÖ 2025+ basierenden Plan Zielnetz 2025+ übrigens beim Güterverkehr.
Vergleichbarkeit
Beispiele dafür, wie stark der Bahnverkehr in einem Land angestiegen ist, das ein Jahresticket für alle öffentlichen Verkehrsmittel eingeführt hat, gibt es fast keines. Das Schweizer Generalabonnement, mit dem man alle SBB-Züge, Busse, Straßenbahnen und Schiffe in der Schweiz benutzen kann, gibt es bereits seit vielen Jahrzehnten. Preislich ist es nicht mit dem geplanten 123-Ticket für ganz Österreich vergleichbar. Für die 2. Klasse zahlt man umgerechnet 3605 Euro, also nicht drei Euro, sondern 9,9 Euro pro Tag.
Die bereits existierende Österreichcard der ÖBB - mit der man allerdings "nur" in ÖBB-Zügen und -Bussen, sowie ausgewählten Privatbahnen fahren kann - ist mit 1944 Euro deutlich günstiger. Und selbst beim oftmals beispielhaft erwähnten Generalabonnement gibt es Kritik daran, dass nicht alle Ortschaften zu jeder Zeit damit erreichbar sind. Auch am geplanten Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel in Österreich samt Einführung des 123-Tickets gibt es bereits Kritik. Auf einigen Strecken sollen etwa Intervalle auf einen Ein-Stunden-Takt verdichtet werden. Das sei noch zuwenig, um Menschen nachhaltig vom Auto auf Öffis umsteigen zu lassen, heißt es.
Auto-Umstieg ist machbar
"Ein Ein-Stunden-Takt ist aber schon mal nicht schlecht", kontert Günter Emberger, der Leiter des Instituts für Verkehrsplanung an der TU Wien. "Am Morgen und am Abend kann man das Intervall ja verdichten." Durch einen attraktiven Preis und ein ausreichend gutes Angebot, kombiniert mit gezielten Marketingmaßnahmen, ließe sich schon eine Änderung des individuellen Mobilitätsverhaltens erzielen. "Vielleicht tut es am Anfang ein bisschen weh, aber bei der Mobilität ist es wie beim Rauchen-Abgewöhnen: Wenn man einmal mit dem Zug fährt und das komfortabel und zuverlässig, dann will man nicht mehr zurück zum Auto."
Warum überhaupt Punkt B?
Klarerweise gelte es laut Emberger, nicht nur Öffis attraktiver zu machen, sondern auch ganz andere Hebel in Bewegung zu setzen. "Jeder von uns denkt: Wie komme ich von A nach B und womit am schnellsten. Verkehrsplanung müsste vorher ansetzen, nämlich mit der Frage: Warum muss ich überhaupt zu Punkt B fahren?" Arbeitsplätze näher an Wohnorte zu bekommen (Stichwort Heimarbeit), Ortskerne attraktiver zu machen, Parkräume zu bewirtschaften, Platz für Fußgänger und Radfahrer zu schaffen wäre Sicht des Forschers wünschenswert.
"Ein Idealbeispiel für den möglichst raschen Transport von A nach B ist Japan mit seinen pünktlich fahrenden Hochgeschwindigkeitszügen. Dort pendeln Leute 300 Kilometer pro Tag. Man muss weggehen von diesem Geschwindigkeitsfetischismus. Mit schnellen Verbindungen erzieht man Menschen zum Pendeln", ist Emberger überzeugt. "Wir jammern aber auch auf hohem Niveau. Unser Verkehrssystem ist super. Sehen Sie sich mal den öffentlichen Verkehr in Rom oder in Asien an. Österreich ist da im Vergleich ein Schlaraffenland."