Die Nobelpreis-Krankheit
Jedes Jahr werden Anfang Oktober relativ unbekannte Menschen hochoffiziell zu Weltstars erklärt: Die Nobelpreise werden verkündet – die wohl ehrenvollste Auszeichnung, die man in der akademischen Welt bekommen kann.
Je klüger jemand ist, umso mehr kann man ihm vertrauen. Wenn also die klügsten Menschen einen Nobelpreis bekommen – muss dann nicht ziemlich alles, was ein Nobelpreisträger sagt, garantiert richtig sein? Nein, leider nicht. Immer wieder sorgen auch Nobelpreisträger mit irritierend unwissenschaftlichen Aussagen für Kopfschütteln. Dieses Phänomen ist so häufig, dass es sogar einen Namen hat: Man spricht von der „Nobelpreis-Krankheit“.
Klimaleugner und COVID-Schwurbler mit Nobelpreis
Kürzlich schaffte es etwa Ivar Giaever in die Medien, der Physiknobelpreisträger des Jahres 1973. Er unterschrieb eine Deklaration, die den menschengemachten Klimawandel leugnet. Darin finden sich allerdings keine neuen Argumente, sondern bloß Wiederholungen längst widerlegter Missverständnisse. Giaever hat selbst nie zu klimarelevanten Themen geforscht – fühlt sich als Nobelpreisträger aber berufen, dem wissenschaftlichen Konsens zu widersprechen.
Während der Corona-Pandemie sorgten die Nobelpreisträger Luc Montagnier und Michael Levitt für Aufsehen. Luc Montagnier hatte den Medizinnobelpreis für die Entdeckung des HI-Virus erhalten. Kein Zweifel: Das war eine großartige Leistung. Danach präsentierte er allerdings eine ganze Reihe von Aussagen, die in der Fachwelt auf breite Ablehnung stießen: AIDS könne man auch ohne Medikamente heilen, mit gesunder Lebensweise – das widerspricht allem, was man aus der AIDS-Behandlung in den letzten Jahrzehnten gelernt hat. DNA-Moleküle würden Radiowellen aussenden und damit Wassercluster erzeugen – diese Behauptung ist mit der Physik unvereinbar. Und 2020 erklärte er, COVID-19 sei entstanden, als man in China einen Impfstoff gegen AIDS herstellen wollte – auch wenn die Herkunft des Virus nicht letztgültig geklärt ist, gibt es keinerlei Verbindung zu AIDS und dem HI-Virus.
Der Chemienobelpreisträger Michael Levitt wiederum präsentierte Modellrechnungen zur Ausbreitung der Pandemie – auch wenn solche Rechnungen mit seinem Fachgebiet nichts zu tun haben. So ist es auch kein Wunder, dass seine Prognosen ziemlich weit von der Wahrheit entfernt lagen: Ein baldiges Pandemie-Ende und weniger als 170.000 Corona-Tote sagte er für die USA im Jahr 2020 voraus, inzwischen liegt die Zahl bei über einer Million.
Telepathie und Vitamine
Die „Nobelpreis-Krankheit“ gibt es aber schon viel länger: Der Physik-Nobelpreisträger Brian Josephson begann in den 1970er-Jahren, sich in seltsame Thesen rund um paranormale Phänomene wie Telepathie und Parapsychologie zu verstricken. Der Biochemiker Kary Mullis bestritt den Zusammenhang von AIDS und HIV – obwohl dieser Zusammenhang wissenschaftlich längst außer Zweifel stand. Linus Pauling, der sowohl den Chemie- als auch den Friedensnobelpreis gewann, entwickelte im Alter einen merkwürdigen Fanatismus für Vitamine und war davon überzeugt, dass man mit Vitamin C Krebs vorbeugen kann – ein Glaube, vor dem professionelle Krebsforscher freilich eindringlich warnen.
Vielleicht sollte uns das gar nicht überraschen: Wer einen Nobelpreis gewinnt, verbringt fortan das Leben als gefeierter Star. Wohin man auch geht, man steht im Mittelpunkt, bekommt Mikrofone unter die Nase gehalten und wird zu allen möglichen Themen um eine Meinung gebeten. Es ist kein Wunder, dass das manchen Leuten nicht guttut. Wer keinen Widerspruch erfährt, beginnt wohl irgendwann, sich selbst alles zu glauben.
Nur der wissenschaftliche Konsens ist zuverlässig
Das zeigt uns: Die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Aussagen entsteht nicht durch die Autorität einer Einzelperson. Selbst die klügsten Menschen können irren. Viel verlässlicher ist der Konsens zwischen Fachleuten: Was sich nach vielen Experimenten in vielen Diskussionen zwischen vielen verschiedenen Leuten auf der ganzen Welt allgemein durchsetzt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit richtig.
Die Wissenschaft ist keine Liste an Gesetzen, die irgendwann von nobelpreisgekrönten Würdenträgern erlassen wurden. Sie ist ein Netz aus unzähligen Querverbindungen, Argumenten und Indizien. Ein gutes Netz ist tragfähig, weil es aus vielen Fäden besteht – nicht weil irgendein Knoten von einem besonders berühmten und vertrauenswürdigen Knotenknüpfer stammt.