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Maßgeschneiderte Alltagshelfer für Menschen mit Behinderung

Noch mehr Praxisbezug – auch direkt in den Vorlesungen und Kursen, das war das Ziel von Andrea Kerschbaumer: „Wir haben an der Hochschule Campus Wien bereits viel Praxisbezug im Rahmen von Praktika. In Vorlesungen und Kursen gab es aber nur theoretische Fallbeispiele. Wir wollten direkt mit den Menschen arbeiten.“  Die Ergotherapeutin und Psychologin hat daher 2023 das Projekt „NEST“ an der Hochschule Campus Wien initiiert. 

NEST steht für „New Everyday Supportive Technology“ und wird von der MA 23 der Stadt Wien gefördert. Studierende aus 6 verschiedenen Studiengängen der Technik und Gesundheitswissenschaften erarbeiten dabei unter praxisnahen Bedingungen Konzepte und Prototypen für technische Hilfsmittel, die Menschen mit Beeinträchtigungen den Alltag erleichtern sollen. Das Besondere dabei ist, dass auch die betroffenen Klientinnen und Klienten aktiv an den Lehrveranstaltungen teilnehmen.

Betroffene von Anfang an einbinden

Ein Leitgedanke ist die sogenannte „Co-Creation“. Das bedeutet, alle relevanten Akteure von Anfang an einzubinden. „Wir wollten unsere Kollegen und Kolleginnen aus der Technik direkt an den Alltag der Betroffenen heranführen, damit Tools entwickelt werden, die direkt zu deren Bedürfnissen passen“ sagt Susanne Hensely-Schinkinger, die die Leitung des Projekts NEST von Andrea Kerschbaumer übernommen hat.

Susanne Hensely-Schinkinger

Hensely-Schinkinger ist Medizininformatikerin und Pflegewissenschaftlerin am Forschungszentrum „Digital Health and Care“. Viele Studierende aus technischen Disziplinen haben beispielsweise noch nie mit jemandem Kontakt gehabt, der einen Tremor hat. „Es ist schwer, etwas zu entwickeln, wenn man es noch nie gesehen hat. Die Studierenden sind motiviert, wenn es einen Realitätsbezug gibt“, meint Kerschbaumer.

„Innovation Challenge“ im November

Im November trafen 29 Studierende und 4 Lehrende aus Ergotherapie, Health Assisting Engineering, Computer Science and Digital Communications, High Tech Manufacturing und Gesundheits- und Krankenpflege im Rahmen einer „Innovation Challenge“ auf 2 Klientinnen, die Bedarf an einer bestimmten Alltagstechnologie hatten. Das Format sei inspiriert von „Hackathons“, bei denen mehrere Teams innerhalb eines kurzen Zeitraums z. B. eine App entwickeln sollen.

Marua, eine Klientin bei der Innovation Challenge, meinte zum Beispiel, dass sie aufgrund ihres Tremors kein Tablet bedienen könne. „Marua rutscht auf einem normalen Tablet leider ab und kann es daher nicht verwenden“, berichtet Hensely-Schinkinger. Zusätzlich müsse sie zur Therapie in einem sogenannten Stehgerät stehen, damit ihre Muskeln nicht erschlaffen. Das sei auf Dauer ziemlich langweilig.

Im Rahmen von NEST sollten die Studierenden deshalb gemeinsam mit der jungen Frau eine Beschäftigungsmöglichkeit mit sozialem Aspekt entwickeln. Ausgehend von Maruas Interesse für Malen entstand das Konzept für die „RateMal-App“: Marua sollte etwas malen, das andere dann erraten müssen – ähnlich den Gesellschaftsspielen „Pictionary“ oder „Activity“.

Einkaufskorb und Trinkhilfe als Prototypen

Während Maruas Mal-App aus der 2-tägigen Innovation-Challenge vorerst nur ein Konzept ist, wurden im vergangenen Wintersemester 2 Prototypen gebaut. Die Studierenden entwickelten gemeinsam mit Thommy, der im Rollstuhl sitzt, einen kompatiblen Einkaufskorb.

Für Marua entstand eine Trinkhilfe. Sie lässt sich an einer Tischplatte montieren und hält ein handelsübliches Trinkglas trotz ihres Tremors stabil.

Trinkhilfe bei Tremor.

Disziplinen profitieren gegenseitig

Die Studierenden in Gesundheitsdisziplinen profitieren ebenfalls von der engen Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus der Technik. „Es geht darum, ein technisches Grundverständnis zu bekommen, z. B. kennenzulernen, was mit 3D-Druck möglich ist oder wie Programmieren funktioniert“, sagt Hensely-Schinkinger.

Durch die gemeinsamen Lehrveranstaltungen werden Hürden abgebaut. „Ich selbst habe als Ergotherapie-Studentin zwar Handwerkszeug bekommen, aber keinen Technikunterricht. Als ich danach mein Health-Assisting-Engineering-Studium begonnen habe, war meine Befürchtung schon, ‚Komm ich da mit der Technik mit?‘“, meint Kerschbaumer. „Wir hoffen, dass die Angst vor der Technik wegfällt, denn die Zukunft im Gesundheitswesen geht in Richtung Digitalisierung.“

Andrea Kerschbaumer hat das Projekt NEST initiiert.

Griffverdickung aus dem 3D-Drucker statt aus Tixo

„Wir Ergotherapeuten und Ergotherapeutinnen lösen viel kreativ – beispielsweise mit Tixo. Wenn ein Kind z. B. einen Stift nicht halten kann, nehmen wir Gummi und Tixo, um eine Griffverdickung zu bauen und das schaut auch dementsprechend aus“, meint die NEST-Initiatorin. Doch ein selbstgebasteltes Hilfsmittel könne zu Stigmatisierung in der Schule führen.

Das Ziel: Angehende Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten der Hochschule Campus Wien sollen dank NEST in Zukunft nicht zum Tixo greifen, sondern sich beispielsweise direkt an Kollegen und Kolleginnen im 3D-Druck-Labor der Hochschule Campus Wien wenden. Dort könne man individuell angepasste Hilfsmittel mit ansprechendem Design herstellen.

Partnerorganisationen gesucht

Die Förderung für das Projekt läuft noch bis 2027. Bis dahin ist eine weitere einsemestrige Lehrveranstaltung geplant, in der die Konzepte aus der Innovation Challenge zu greifbaren Prototypen weiterentwickelt werden. 

Langfristig wollen Kerschbaumer und Hensely-Schinkinger ein neues „Studierendenteam“ mit Gesundheits-Technologie-Fokus begründen. Dabei handelt es sich um interdisziplinäre Initiativen an der Hochschule Campus Wien, bei denen Wissen spielerisch in die Praxis umgesetzt wird. Bei diesen freiwilligen Zusatzprojekten können interessierte Studierende derzeit etwa eine Rakete bauen, IT-Security-Probleme lösen oder ein Rennauto konstruieren.

„NEST ist eine Win-win-Situation“, meint Kerschbaumer – sowohl Studierende als auch Betroffene profitieren davon. „Wir hoffen, dass wir für die Zukunft noch mehr Organisationen finden, die Lust haben, mit uns zu kooperieren.“

Dieser Artikel ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Hochschule Campus Wien und der futurezone entstanden.

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Jana Wiese

interessiert sich besonders für die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technologie und Wissenschaft. Mag das offene Web, Podcasts und Kuchen, (food-)bloggt seit 2009.

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