Anti-government protest in Beirut
© EPA / WAEL HAMZEH

Gastkommentar

Wir wurden nach dem Auto süchtig gemacht. Zeit, clean zu werden

46 Stunden jährlich verbringen Autofahrer*innen durchschnittlich im Stau

Wenn Ihnen jemand vorschlagen würde, sich 4 Jahre lang relativ unbeweglich in einen Sitz schnallen zu lassen, in einer schmalen Kapsel, umgeben von Blech, Plastik, Lärm, Gestank und blinkenden Lichtern, was würden Sie davon halten? Sie würden dieser Person vermutlich nicht bereitwillig hohe Summen für dieses Erlebnis bezahlen, sondern sie eher für einen sadistischen Spinner halten, oder?

4 Jahre. Das ist die Lebenszeit, die Autofahrer*innen im Durchschnitt in ihren Fahrzeugen verbringen. 41 Stunden im Jahr sind sie damit beschäftigt, einen Parkplatz zu suchen. 46 Stunden jährlich verbringen sie durchschnittlich im Stau – in Metropolen wie Paris, Rom oder London sind es gar 200 Stunden. 23 Stunden am Tag steht ein Auto dabei einfach nur ungenutzt herum und blockiert damit jene noch übrigen Fleckchen Lebensraum, die nicht schon von Straßen eingenommen wurden, auf denen Blechlawinen sich ihren Weg quer durch alle unsere Lebensbereiche furchen.

Dafür, dass sie das tun, geben wir viel Geld aus. Das betrifft nicht nur die individuellen Kosten, ein Auto anzuschaffen und zu erhalten, zu versichern und den Tank zu füllen. Selbst wer kein Auto besitzt, finanziert das Autofahren maßgeblich mit: Mit Steuergeldern werden Straßen gebaut und repariert, Tankfüllungen subventioniert und Menschen dafür bezahlt, sich zu überlegen, wie man es dem Volke schmackhaft macht, an diesem ganz offensichtlich völlig absurden Verhalten nicht nur festzuhalten, sondern mit Zähnen und Klauen dafür zu kämpfen, weiterhin den hart erarbeiteten Lohn dafür ausgeben zu dürfen, unsere Zeit, unseren Platz, unsere Gesundheit und unser Klima zu opfern.

Eigentlich liegt es auf der Hand: Wir müssten die Automobilindustrie und die Öl-Lobby zu sadistischen Spinnern erklären dafür, dass sie von uns derart Verrücktes verlangen. Aber stattdessen verteidigen wir sie schäumend und fordern noch mehr Platz für Straßen und Parkplätze und noch mehr öffentliche Gelder für jede Tankladung. Die einzige Erklärung für dieses seltsame Gebaren ist: Wir sind abhängig.

Wir wurden süchtig gemacht, über Jahrzehnte. Unsere Stadtzentren wurden ausgerottet für Einkaufszentren außerhalb auf der grünen Wiese, mit dem Auto günstig gelegen am Kreisverkehr. Unser Lebensraum wurde zugepflastert, damit wir Blechkübel statt Bäume vor der Tür stehen haben. Unsere natürlichen Landschaften wurden zersiedelt und durchschnitten. Wir bauen Häuser in den entlegensten Ecken, um die Natur zu genießen – und fordern dann, dass ebendiese Natur zubetoniert und mit Abgasen verschmutzt wird, damit wir exklusiv auf unseren 4 Rädern dort hingelangen. Und, viel schlimmer als alles andere: Wir schauen sogar zu, wie Kriege mit Geld geführt werden, das wir mit unserer Abhängigkeit bezahlen.

All das war nie unsere individuelle, persönliche Absicht. Wir wurden als Gesellschaft in diese existenzielle Abhängigkeit gedrängt und wir wurden betrogen, als man uns diese Abhängigkeit als Freiheit verkauft hat. Aber wir haben jetzt die Chance, ein für alle Mal aus der Sucht auszusteigen. Lassen wir uns nicht länger für dumm verkaufen von denen, die uns weiter am Zapfhahn halten wollen. Lassen wir uns nicht einreden, dass wir unsere Autos und Straßen und Einkaufszentren am Stadtrand bräuchten, sondern fordern wir die Befreiung vom Zwang, unsere kostbare Lebenszeit in engen Fahrzeugen zu verbringen. Empören wir uns nicht über gestiegene Spritpreise, sondern über jene, die jetzt von uns verlangen, dem Kriegstreiber weiter seine Gräueltaten zu finanzieren statt endlich ohne Kompromisse in alternative Energien und sanfte Mobilität zu investieren.

Weiterhin kollektiv finanziert Unmengen an Benzin zu verbrennen ist kein Zeichen für Fortschritt, Komfort oder gar sozialer Gerechtigkeit. Im Gegenteil: Wenn wir unseren Lebensstil weiterhin auf fossile Ressourcen stützen, gibt es nichts mehr für uns zu gewinnen – aber alles zu verlieren.

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Tina Wirnsberger

Tina Wirnsberger ist Trainerin für nachhaltige Wirtschaft & Politik und Sozialpädagogin. Sie war bis Jänner 2019 Grüne Stadträtin für Umwelt und Frauen in Graz.

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