Symbolbild: Mann mit Robotern
Dead Internet Theory: Stirbt gerade das Internet?
Es ist zum Verzweifeln. Seit 30 Minuten versuche ich mich durch das digitale Gestrüpp der Customer-Support-Helpline zu kämpfen – aber vergebens. „Ich habe Ihre Eingabe nicht verstanden. Für Fragen zu ihrem Vertrag, drücken Sie die 2“ sagt die automatische Stimme in der Leitung. Ich will bitte einfach nur mit einem echten Menschen reden! Bin ich der einzige hier, zwischen lauter Telefonrobotern?
Aber was, wenn wir täglich in genau dieser Situation stecken, ohne es zu merken? Wir scrollen durchs Internet, lesen die Meinungen andere Leute, ärgern und über manche, freuen uns über andere. Kann es sein, dass das alles Maschinen sind? Vielleicht ist diese Forscherin, die immer so lustige Bilder postet, gar kein Mensch, sondern bloß computergeneriert? Vielleicht sind diese aggressiven Rabauken, mit denen ich hitzige politische Diskussionen führe, nur Bots, die von einer fremden Regierung produziert wurden, um mich zu ärgern? Was, wenn das Gewimmel an Internet-Meinungen in Wirklichkeit nur Attrappe ist, ein computergeneriertes Meinungs-Placebo, um mich zu steuern?
Der einsame Mensch in der Bot-Wüste
Das ist die „Dead Internet Theory“: Seit 2016 oder 2017, so behaupten manche, ist das Internet effektiv tot. Seither haben KI-Bots das Netz übernommen, Menschen machen nur noch einen kleinen Bruchteil der Aktivität aus. Dahinter stecken möglicherweise dunkle Mächte, die diese Bot-Armee bedienen, um unsere Meinung zu beeinflussen.
Das ist falsch. Natürlich gibt es KI und Bots im Internet, aber die Behauptung, dass sie für die überwiegende Mehrheit der Meinungsäußerungen verantwortlich seien, ist unhaltbar. Auch wenn uns manche Meinungen im Internet so verrückt vorkommen, dass wir uns kaum vorstellen können, wie ein echter, denkender Mensch sie hervorbringen kann: So sind Menschen nun mal.
Zunehmende Konzentration der Marktmacht
Ein Hauch von Wahrheit steckt hinter dieser These aber vielleicht schon. Das Internet ist tatsächlich dabei, sich radikal zu verändern – durch eine seltsame Kombination von KI und Social Media. Es gab Zeiten, in denen man eine Liste von Webseiten im Kopf (oder als Lesezeichen abgespeichert) hatte, auf denen man ab und zu vorbeigeschaut hat, ob es etwas Neues gibt. Es gab Zeiten, in denen man durch Facebook scrollte und dort mit Links zu unzähligen, verschiedenen interessanten Webseiten konfrontiert wurde – und manche davon klickte man dann an.
Heute ist der Trend ein anderer: Web-Plattformen wollen uns nicht mehr weglassen. Ein Link, der anderswo hinführt, ist unerwünscht. Wir sollen ja dableiben. Durch TikTok oder Instagram scrollt man nicht, um Links zu anderen Seiten zu finden, wie das früher bei Twitter üblich war. Statt mit Google Webseiten zu einem Thema zu suchen, fragt man heute den Chatbot – der liefert die Antwort, ohne dass wir die Quellen-Seite je sehen.
Das ist praktisch, aber es ist auch gefährlich. Online-Magazine berichten von rückläufigen Klickzahlen, die Programmier-Webseite Stack Overflow verzeichnet deutlich weniger Anfragen, seit man ChatGPT um Programmier-Hilfe fragen kann. Seiten, die Übersetzungshilfen oder inhaltlichen Rat in Spezialbereichen bieten, verlieren an Bedeutung.
Wenn die Zahl der unterschiedlichen Webseiten, die wir aufrufen, sinkt, dann steigt die Macht der wenigen Informations-Anbieter, denen wir vertrauen. Elon Musks Grok zeigt uns, dass eine KI auf knallharte Weise politisch manipulativ sein kann. Was, wenn wir das gar nicht bemerken, weil der Algorithmus unserer Lieblings-Social-Media-Plattform das auf etwas subtilere Weise macht?
Auf diese Weise könnte das Internet, wie wir es kennen, tatsächlich sterben: Klassische Webseiten werden irrelevant, und nur noch eine kleine Zahl großer Mega-Anbieter bleibt übrig – mit kaum überschaubarer, kaum demokratisch steuerbarer Macht. Das Internet wurde mit dem Versprechen entwickelt, unüberblickbare Vielfalt hervorbringen zu können. Würde es nun in einem langweiligen Oligopol enden, in dem nur noch eine Hand voll Riesen genutzt wird, wäre das schade – und ziemlich gefährlich.
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