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Netzpolitik

„Der Grüne Pass ist nicht so dringend, wie es scheint“

Vor der Pandemie konnte man im Schengen-Raum in Europa nationale Grenzen überqueren, ohne einen Ausweis herzuzeigen. Doch seit der Corona-Pandemie ist alles anders. In ein anderes Land zu reisen, wurde stark erschwert. Überall gelten andere Bestimmungen, viele Länder haben eine mehrtägige, verpflichtende Quarantäne und Formulare, in die man sich vor der Reise eintragen muss, eingeführt.

Der Grüne Pass verspricht Europas Einwohnern nun das Zurückerlangen der Reisefreiheit. Er soll auf jedem Flughafen und in jedem Hotel in Europa gültig und lesbar sein. Er soll grenzüberschreitend in ganz Europa gelten. Doch ist das wirklich Reisefreiheit und welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit demokratische, europäische Werte erhalten bleiben?

GREECE-TOURISM-FEATURE

Die Sehnsucht nach Reisen ist bei vielen mittlerweile groß.

Neue Normalität

Über diese Fragen haben der Universitätsprofessor Nikolaus Forgo vom Institut für Digitalisierung an der Uni Wien und Ron Roozendaal, Chief Information Officer (CIO) im niederländischen Gesundheitsministerium, auf Einladung der TU Wien virtuell bei der Vorlesung zum „digitalen Humanismus“ diskutiert.

Forgo sieht im Grünen Pass keine „Rückkehr zur Normalität“, sondern einen Schritt in ein komplett verändertes Europa und bestenfalls ein Schritt in eine „neue Normalität“. Das sei kein Schritt, den er gut heiße, sagt Forgo: „Früher war es nicht notwendig, einen Nachweis herzuzeigen, um in ein anderes EU-Land fahren zu dürfen."

Natürlich verstehe er die wirtschaftliche Notwendigkeit für Länder, die stark auf Tourismus angewiesen sind. Dazu zählt er auch Österreich. Aber in Wirklichkeit sei der Grüne Pass nicht so dringlich, wie es scheine. „Der Grüne Pass wird die Probleme, die wir durch die Pandemie haben, nicht lösen."

„Der Grüne Pass wird die Probleme, die wir durch die Pandemie haben, nicht lösen."

Nikolaus Forgo, Professor für Technologie- und Immaterialgüterrecht

Epidemiologisch (nicht) sinnvoll

Vorgesehen ist, dass mit dem Grünen Pass Geimpfte, Genesene und Getestete gleich behandelt werden sollen und frei in Europa reisen können. Bei Getesteten gibt es die Einschränkung, dass die Tests nur 48 bis 72 Stunden gelten sollen. Bei der Impfung ist vorgesehen, dass sie laut derzeitig vorliegenden Informationen erst 22 Tage nach der 2. Impfung als „Vollimmunisierung“ anerkannt werden soll. Forgo kritisiert, dass diese Kriterien festgelegt worden seien, ohne zu prüfen, ob sie auch wirklich epidemiologisch sinnvoll sind.

So könnten sich etwa Getestete erst am Vortag einer Reise angesteckt haben, oder Geimpfte sich mit einer „Fluchtmutation“ anstecken, gegen die die Impfung nicht wirkt. Außerdem ist es noch gar nicht mit Sicherheit bei allen Impfungen erwiesen, dass Geimpfte das Coronavirus nicht trotzdem weitergeben können.

Was passiert mit Sputnik V?

Zudem gebe es zahlreiche Probleme aus der Praxis, so der Digitalisierungsexperte. Etwa dann, wenn Menschen aus Ungarn, die etwa mit Sputnik V geimpft sind, in ein anderes EU-Land reisen möchten. Sputnik V ist derzeit kein von der EMA zugelassener Impfstoff. Damit werden EU-Bürger von der vermeintlichen Reisefreiheit ausgeschlossen. Forgo ist auch aus grundrechtlicher Sicht kein Freund des Grünen Passes: „Ich habe nicht den Eindruck, dass die überhastete Einführung des Grünen Passes besonders transparent abläuft.“

Roozendaal sieht dies freilich anders. „Natürlich braucht es Offenheit, um Vertrauen zu erzeugen. Wir in den Niederlanden haben bereits eine Lösung entwickelt, die auf Open Source, den Schutz der Privatsphäre und ein großes Level an IT-Sicherheit setzt“, so der CIO des niederländischen Gesundheitsministeriums.

"Die Lösung mit dem Grünen Pass ist auf jeden Fall sicherer, als wenn wir keinen Grünen Pass hätten.“

Ron Roozendaal, CIO des niederländischen Gesundheitsministeriums

"Müssen Situation akzeptieren"

Auch in andere Länder der Welt konnte man früher nicht ohne Impfpass reisen, nun sei das auch in Europa so. „Wir sind froh, dass wir jetzt ein Mittel wie die Impfung haben, die gab es während der Spanischen Grippe nicht. Und wir müssen die Situation akzeptieren, in der wir uns gerade befinden“, argumentiert Roozendaal.

Roozendaal sagt zudem, dass er vollstes Vertrauen in den Prozesse der EU habe, dass die europäische Lösung den europäischen Werten entsprechen werde und Grundprinzipien wie Datenschutz eingehalten werden. Auf die Frage, ob man mit der Einführung nicht warten sollte, bis alle die Chance auf eine Impfung haben, die das möchten, sagt er: „Wie lange sollen wir noch warten, bis wir die Grenzen wieder öffnen? Die Lösung mit dem Grünen Pass ist auf jeden Fall sicherer, als wenn wir keinen Grünen Pass hätten.“

Debatte und gesetzliche Beschränkungen

Der Niederländer begrüßt auch, dass einzelne Länder den Grünen Pass national früher umsetzen möchten als es die EU-Pläne vorsehen und er auch für Restaurant- oder Konzert-Besuche herangezogen werden soll. Forgo hingegen warnt davor, dass damit Türen geöffnet würden, überall Eintrittsbeschränkungen zu errichten und damit eine Art Massenüberwachung auf nationaler Ebene zu etablieren. „In den Niederlanden wird über diesen Prozess im Parlament offen und ausführlich debattiert“, so Roozendaal.

„Bei uns gibt es außerdem eine Beschränkung im Gesetz, dass nach jeweils 3 Monaten evaluiert werden muss, ob die Maßnahmen noch gerechtfertigt sind. Ist die Pandemie vorbei, ist auch der Grüne Pass wieder Geschichte in unserem Land“, sagt Roozendaal. In Österreich hingegen gibt es bisher kaum eine Debatte über die gesellschaftlichen Auswirkungen eines derartigen Systems. Woran das liegt? „Es fehlt an unabhängigen Institutionen, in denen eine offene Debatte möglich ist", sagt Forgo.

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Barbara Wimmer

shroombab

Preisgekrönte Journalistin, Autorin und Vortragende. Seit November 2010 bei der Kurier-Futurezone. Schreibt und spricht über Netzpolitik, Datenschutz, Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Social Media, Digitales und alles, was (vermeintlich) smart ist.

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