iPhone Xr im Test: Akku-König mit Schönheitsfehler
Bei der Apple-Präsentation der neuen iPhones blieb das iPhone Xr erstaunlich unterbelichtet und auch zur Verkaufsparty kam es aufgrund von Produktionsproblemen mehrere Wochen zu spät. Dabei deutet vieles darauf hin, dass das um 300 Euro günstigere iPhone der neuesten Generation die erste Wahl für viele Käufer sein wird. Im Test kann das iPhone Xr mit Abstrichen überzeugen. Wer zwischen iPhone 8, iPhone Xr und iPhone Xs schwankt, hat allerdings keine leichte Wahl.
Bunt, aber edel
Beim iPhone Xr zeigt uns Apple endlich einmal ein verspielteres, buntes Gesicht. Neben Schwarz und Weiß ist das Xr in vier weiteren Farben (Red, Gelb, Koralle und Blau) verfügbar. Das weiße Modell, das ich zum Testen bekam, ist leider das langweiligste der Kollektion. Der hellgraue Aluminium-Rahmen wirkt auch nicht so speziell und hochwertig wie bei den andersfarbigen Versionen, bei denen die Farbe des Rahmens die Rückseite besser widerspiegelt.
Mit dem iPhone Xr kehrt Apple zum gescheiterten Konzept des iPhone 5c zurück, beweist dieses Mal aber, dass bunt gleichzeitig auch edel sein und zur Marke passen kann. Die Verarbeitung ist Apple-typisch hochwertig. Zur Bruchsicherheit der Glas-Rückseite kann man stehen wie man will. Wie beim iPhone 8 und dem iPhone Xs sieht und fühlt sie sich toll an.
Im Vergleich zum iPhone 8 und dem Xs kommt mir der Rahmen des Xr ein bisschen rutschiger vor, was aber auch einfach daran liegen könnte, dass es größer und somit weniger handlich ist. Einmal mehr steht die Kamera hinten deutlich aus dem Gehäuse hervor. Apple ist dieses Detail offenbar einfach egal, auch wenn andere Hersteller das mittlerweile viel besser lösen.
Bildschirm: Warum nur, Apple?
Das Display ist die Komponente des iPhone Xr, die seit der Präsentation im Herbst für die meisten Diskussionen sorgt. Zum einen verzichtet Apple auf das farbenstärkere OLED und setzt auf die im iPhone 8 verbaute LCD-Technologie. Zum anderen – und damit sind wir schon beim größten Schönheitsfehler des Geräts – gibt sich Apple mit einer Pixeldichte von 326 ppi zufrieden. Apple behauptet, dass das Auge den Unterschied nicht wahrnehmen kann. Die Entscheidung bleibt für mich dennoch unverständlich.
Denn unbestritten ist, dass Apple mit dem Xr einen ziemlichen Schritt zurück macht. So setzte Apple beim iPhone 8 für 5,5 Zoll auf 1920 mal 1080 Pixel und somit eine Dichte von 401 ppi. Das iPhone Xr ist mit 6,1 Zoll Display größer, bringt auf dieser Fläche mit 1792 mal 828 Pixel aber sogar weniger Pixel unter. Bei hochauflösenden Bildern und YouTube-Videos (die anders als beim iPhone Xs auch nur in 1080p und nicht in 1440p abgerufen werden können) ist dies auch erkennbar, wenn man genau hinsieht.
Das fällt insbesondere auch auf, wenn man das Xr mit dem kleineren iPhone 8 vergleicht. Zwar ist die Pixeldichte bei den Telefonen identisch. Durch das größere Display wirkt das Xr aber dennoch unschärfer – zumal man das Gerät deswegen nicht weiter weg vom Auge hält. Keine Frage – wer kein superhochauflösendes Display als Vergleich daneben liegen hat, wird wenig merken. Auch kleine und feingliedrige Schriften lassen sich gut lesen. Ein Wow-Effekt stellt sich allerdings nicht ein. Die Farbgebung und auch die Blinkwinkel-Toleranz sind für LCD jedoch ausgezeichnet.
Kompromiss zwischen Xs und Xs Max
Die Knausrigkeit Apples beim Display ist insofern schade, da der mit 6,1 Zoll recht große Bildschirm so nicht alle Vorzüge ausspielen kann. Das liegt teilweise aber einmal mehr auch an der Software. Denn wie bei den Plus-Modellen und beim Xs Max nutzt Apples iOS das Mehr an Platz kaum aus. Wie beim iPhone 8 haben sechs App-Reihen auf dem Startbildschirm Platz. Die Icons sind einfach größer und mit mehr Abstand dazwischen. Auch andere Komponenten wie Widgets oder Benachrichtigungen werden einfach größer aufgeblasen.
Als Verfechter kleiner Smartphones – ich hielt deswegen sehr lange am iPhone SE fest – hat mich überrascht, dass das iPhone Xr eigentlich recht gut zu handhaben ist. Der Unterschied zu einem iPhone 8 oder iPhone Xs fällt weniger stark ins Gewicht als vermutet, zumal auch die genannten einhändig nur mehr mit Einschränkung zu bedienen sind. Dann lieber mehr Display. Im Vergleich zum iPhone Xs Max und dem iPhone 8 Plus ist die Größe des Xr aber angenehmer – ein guter Kompromiss also zwischen Xs/8 und Xs Max/8 Plus.
Gute Kamera mit Haustier-Phobie
Der zweite Knackpunkt für viele, die zwischen iPhone 8/8 Plus und Xs/Xs Max überlegen, sind die Kameras des iPhone Xr. Dabei lässt sich Apple nicht lumpen. Sowohl die Front-Kamera, die für die Gesichtserkennung FaceID verantwortlich ist, als auch die Hauptkamera auf der Rückseite sind völlig identisch mit den empfindlich teureren Xs-Modellen. Verzichten muss man lediglich auf die Teleobjektiv-Kamera, die in der Praxis tatsächlich bessere Porträts und vor allem auch einen optischen Zoom ermöglicht.
Zumindest beim Porträt-Modus tut es Apple anderen Herstellern wie Google beim Pixel 3 XL gleich und sorgt softwareseitig für die gewünschte Hintergrund-Unschärfe. Im Test funktionierte das ganz ok, wenngleich die Fehleranfälligkeit – etwa bei Fotos von Personen mit Brille, aber auch beim Übergang zwischen Haaren und Hintergrund – noch recht hoch ist. Darüber hinaus kann die Funktion nur bei Personen verwendet werden. Objekte und auch Haustiere können im Portrait-Modus nicht fotografiert werden. Erste Apps von Drittherstellern versuchen hier, Abhilfe zu schaffen.
Im Vergleich zum iPhone 8 konnte das Xr im Test vor allem bei Nachtaufnahmen punkten. Für gut ausgeleuchtete Aufnahmen fällt der Vergleich schwer, weil der HDR-Modus, der aus mehreren Fotos das optimale Bild errechnet, bei der älteren und neueren iPhone-Generation extrem unterschiedlich ist. Bei Selfies und teilweise auch Porträtfotos sorgt das mittlerweile als „Beautygate“ beschriebene Phänomen für seltsam weichgezeichnete Fotos und einen Farben- und Kontrast-Einheitsbrei. Apple spricht mittlerweile von einem Software-Fehler, der mit iOS 12.1 behoben werden soll.
Ganz generell gefällt mir die Richtung, die Apple bei der Farbsaturierung einzuschlagen scheint, weniger gut. Farben werden jetzt meist deutlich intensiver dargestellt – die fotografierte Wiese leuchtet auch bei grauem Himmel bedenklich grün. Ähnlich verhält es sich beim Blau des Himmels und praktisch allen bunten Farben. Hier dürfte Apple eher in Richtung Samsung und die bisher in Asien beliebte Farbästhetik gehen.
Ausgezeichneter Akku
Zumindest in einem Punkt entpuppt sich das iPhone Xr jedoch als absoluter König: bei der Akku-Laufzeit. Denn die geringere Displayauflösung sorgt in Kombination mit dem recht großen Akku von 2942 mAh dafür, dass das günstigste neue iPhone sowohl das iPhone 8 Plus als auch das iPhone Xs Max schlägt. Bis zu 25 Stunden Telefonieren und 15 Stunden Internet-Surfen verspricht Apple.
Bei letzterem ist dieser Wert drei Stunden höher angegeben als beim Xs. Auch beim Videoschauen kommt man zwei Stunden länger aus als mit dem iPhone Xs. Die Angaben ließen sich im Test bestätigen. Wer mit voll aufgeladenem Akku in den Tag startet und das Smartphone nur mäßig nutzt, kann sich berechtigte Hoffnungen machen, dass es am zweiten Tag zumindest bis zum Ende des Arbeitstages durchhält.
FaceID statt Fingerprint
Abgesehen von Bildschirmtechnologie und Dual-Kamera steckt viel Xs im Inneren des Xr. Der Home-Button mit Fingerprint ist Geschichte, das Entsperren mittels FaceID funktioniert aufgrund der gleichen Kameratechnologie und des verbauten, neuen A12-Bionic-Chips genauso zuverlässig und schnell wie bei den Xs-Modellen. Die Meinungen, ob Gesichtserkennung oder Fingerprint angenehmer sind, gehen auseinander. Ich persönlich würde mir beides wünschen. Anders als andere Hersteller hat das Apple in diesem Jahr allerdings noch nicht zusammengebracht.
Fazit: iPhone Xr oder Xs oder 8?
Das iPhone Xr schließt die Lücke zwischen der älteren Modellgeneration mit Fingerprint, Homebutton und viel Gehäuserand sowie der neueren rahmenlosen Variante mit FaceID. Mit einem Preis ab 850 Euro ist das Modell erhebliche 300 Euro günstiger als das iPhone Xs, was es zur besten Preis-Leistungs-Variante im neuen iPhone-Line-up macht. Die unterschiedlichen Gehäusefarben bieten zudem ein echtes Alleinstellungsmerkmal in der iPhone-Familie.
Dass Apple ein schlechter auflösendes Display als beim Vorjahresmodell iPhone 8 Plus verbaut, ist ärgerlich und schade. In der Praxis dürfte der hervorragende Akku, die vom iPhone Xs übernommene Front- und Hauptkamera sowie der verbaute, superschnelle A12-Chip diesen Nachteil für die meisten Leute wettmachen. Meine allergrößte Kritik am X sowie am Xs waren stets der Preis. Dass Apple ein günstigeres Modell mit der neuesten Technologie anbietet, ist ein gutes Zeichen. Auch die Größe des Geräts ist gut gewählt.
Wer noch mehr sparen oder schon aus Prinzip kein schlechteres Display als beim Vorjahresmodell möchte, kann meiner Meinung nach auch getrost zum immer noch tadellosen iPhone 8 oder iPhone 8 Plus greifen. Das kleinere 8er-Modell ist im freien Handel schon bereits um knapp über 600 Euro verfügbar und kostet damit noch einmal 200 bis 250 Euro weniger als das Xr. Im Vergleich zum Xs ist es sogar fast halb so teuer. Angesichts des bei Apple hohen Wiederverkaufwerts nach ein bis zwei Jahren ist folglich auch das eine lohnende Option.
Disclaimer: Das für den Test verwendete iPhone Xr wurde uns für einen begrenzten Zeitraum von A1 zur Verfügung gestellt.