Wenn humane Stammzellen die Abkürzung nehmen
Stammzellen gelten in der Forschung als „Meisterzellen“, denn sie weisen keine oder eine nur geringe Differenzierung auf. Da ihre Funktion noch nicht festgelegt ist, kann sich aus ihnen jede Art von Zelltyp, wie etwa Gehirn-, Haut- oder Immunzellen entwickeln. Stammzellen wird in der Wissenschaft großes Potenzial zugesprochen, denn sie ermöglichen das Erforschen schwerer und als unheilbar klassifizierter Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Diabetes. Das ist aber noch Zukunftsmusik.
Zur Behandlung von Krebsarten wie Blut- oder Knochenmarkkrebs kommen sie hingegen schon seit Jahrzehnten zur Anwendung. Die Stammzellforschung kann zusätzlich der Wirkstofftestung sowie Entwicklung neuer Zelltherapien dienen.
Genetische Abkürzung
Traditionelle Stammzellenverfahren nehmen allerdings viel Zeit in Anspruch, denn sie durchlaufen Prozesse der embryonalen Entwicklung. „Dabei verändern sich Stammzellen schrittweise von einer Zelle zur nächsten, bis sie dann etwa eine Gehirnzelle werden“, erklärt der Wiener Neurochirurg und Forscher der University of Cambridge, Mark Kotter. Die Ausdifferenzierung von Stammzellen in spezielle Zelltypen dauert mehrere Wochen bis Monate.
Kotter hat mit seinem Start-up bit.bio nun eine genetische Abkürzung entdeckt, mit der diese langwierige Embryonalentwicklung übersprungen werden kann. Mit der sogenannten „opti-ox“-Technologie können Milliarden menschlicher Stammzellen innerhalb weniger Tage direkt in jeden gewünschten Zelltyp „umprogrammiert“ werden. Dafür müssen die genetischen „Programme“, welche die unterschiedlichen Zelltypen definieren, identifiziert werden.
Wie ein Computer
Kotter vergleicht eine Zelle mit einem Computer, der sich selbst schafft. „Es gibt eine Informationsebene und eine physikalische Ebene“. Erstere beinhaltet etwa die DNA als eine Art Festplatte sowie aktive Programme und eine Art Sub-Set von den Genen, die wir in der DNA gespeichert haben, wie er gegenüber der futurezone erklärt. Auf der physikalischen Ebene werden die Gene in Proteine umgewandelt – die Grundbausteine aller Zellen.
„Dann gibt es noch die Transkriptionsfaktoren – die Computersprache“, so der Mediziner. Sie kontrollieren die Programme und sagen der Zelle, was sie tun soll. Gemeinsam bilden diese Komponenten das „Betriebssystem“ opti-ox. „Es funktioniert wie ein Enter-Button auf einer Tastatur“, sagt Kotter. Je nach gewünschtem Zelltyp muss nur das jeweilige Programm eingeschaltet werden.
Neue Medikamente
Im Gegensatz zu traditionellen Stammzellenverfahren ist diese Methode etwa zehn Mal schneller. Viel wichtiger als der zeitliche Vorsprung sei Kotter zufolge aber die Definition der Zellen, die man erreichen könne. „Man kann konsistent jedes Mal die gleiche Zelle und die gleiche Menge erzeugen“.
Zudem können mit der Technologie nicht nur große Zellen definiert werden, sondern auch Subtypen, die wiederum unterschiedliche Funktionen aufweisen. Will man etwa nur eine bestimmte Funktion herauskristallisieren, sei dies mit einer konventionellen Differenzierung kaum machbar.
Präzise Erforschung
Die von bit.bio erzeugten menschlichen Zellen kommen der Pharmaindustrie für die Entwicklung neuer Medikamente und einer neuen Generation von Zelltherapien zugute. Kotter: „Der Grund, warum wir das entwickelt haben, war die Einsicht, dass sich humane Zellen ganz anders verhalten als Tierzellen. Mäuse kriegen zum Beispiel kein Alzheimer.“ Dem Mediziner zufolge müssten die Tiere so modifiziert werden, dass sie an etwas erkranken, was wie Alzheimer aussieht. Mithilfe von menschlichen Zellen kann eine Erkrankung hingegen präzise erforscht werden.
Künftig wird es mithilfe von opti-ox auch möglich sein, beschädigte Organe wiederherzustellen oder nachwachsen zu lassen. „Wir sind aber erst am Anfang. Vor uns liegt noch die klinische Entwicklung“, sagt der Experte. Auch das Zellenportfolio soll nun vergrößert werden. Bislang ist es Kotter und seinem Team gelungen, Skelettmuskelzellen und glutaminerge Neuronen zu entwickeln.
Wie sich Stammzellen vor Sars-CoV-2 schützen
Dringt ein mit einem Virus infizierter Wirt in eine Zelle eines Säugetiers, um sich dort zu vermehren, sorgen sogenannte Interferone dafür, dass die umliegenden Zellen vor einer weiteren Infektion geschützt bleiben. Stammzellen können das nicht, denn ihnen fehlt die Fähigkeit, eine Interferon-Abwehrreaktion auszulösen.
Wie sie selbst Viren – speziell RNA-Viren wie Sars-CoV-2 – abwehren, war lange Zeit ein Rätsel. Nun haben Wissenschafter des Francis-Crick-Instituts in London diese rätselhaften Abwehrmechanismus ermittelt.
RNA-Interferenz
Das Ergebnis: Stammzellen schützen sich mit der sogenannten „RNA-Interferenz“, der sich auch Zellen von Pflanzen und wirbellosen Tieren bedienen. Für die Studie wurde genetisches Material von Mäusestammzellen untersucht, welche die Bildung eines Proteins, das als „antiviraler Dicer“ (aviD) bezeichnet wird, anweisen.
Dieses Protein zerlegt RNA, wodurch eine Reproduktion unmöglich gemacht wird. Experimente mit Sars-CoV-2-Viren auf künstlich erzeugte menschliche Zellen haben gezeigt, dass Zellen, aus denen das aviD-Protein entfernt wurde, drei Mal öfter mit dem Virus infiziert werden, als wenn das Protein vorhanden ist.
Neue Möglichkeiten
Zusätzlich hat das Forscherteam rund um Caetano Reis e Sousa aus Mäusestammzellen gezüchtete Gehirnorganoide mit dem RNA-Virus Zika sowie Sars-CoV-2 infiziert. Jene mit aviD wiesen ein schnelleres Wachstum sowie weniger infizierte Stammzellen auf als jene ohne das Protein. Reis e Sousa und sein Team hoffen, mithilfe dieser Entdeckung neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Medikamenten zu finden, „wenn wir die natürliche Fähigkeit unseres Körpers zur Bekämpfung von Infektionen nutzen wollen.“