Helfen Funktionen, die vor Smartphone-Sucht schützen sollen?
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Wie kleine Happen reihen sich auf TikTok die Videos. Die meisten dauern nur wenige Sekunden. Mehrmals die Minute ändern sich die Themen, die Clips unterhalten oder informieren, das Gehirn wird mit Reizen überflutet. Die Happen machen aber nicht satt - stundenlang kann man so auf der Social-Media-Plattform verbringen.
TikTok erinnert daran, Pausen einzulegen
TikTok will selbst gegen den süchtig machenden Konsum auf seiner App vorgehen. Eine neue Funktion soll nach einer gewissen Zeit zu Pausen auffordern. Das ist an sich sinnvoll. Wie eine Studie der britischen Universität Bath etwa zeigt, verbessern Pausen von sozialen Medien die psychische Gesundheit. Bei dem Experiment wurden Proband*innen allerdings gebeten, für eine ganze Woche auf TikTok, Instagram und Twitter zu verzichten.
Die Video-App warnt wahlweise nach 40, 60, 90 oder 120 Minuten, die man pro Tag auf der App verbringt. Eine Benachrichtigung gibt es auch, wenn man sich 10, 20 oder 30 Minuten am Stück die Videoclips ansieht. Die Zeitlimits müssen dabei aktiv eingestellt werden, von Haus aus werden bei TikTok keine Benachrichtigungen dazu ausgespielt.
TikTok ist nicht die einzige App, die auf “Digital Wellbeing” oder “Digitales Wohlbefinden” setzt. Bei den meisten modernen Smartphones - sei es Android oder iOS - sind solche Funktionen bereits ab Werk in den Einstellungen enthalten. Sie zeigen etwa die Nutzungsdauer einzelner Apps, warnen bei zu langer Nutzung oder stellen das Smartphone zu bestimmten Zeiten stumm. “Wir glauben, dass Technologie das Leben verbessern und nicht davon ablenken sollte”, lautet etwa Googles Leitspruch für diese Funktionen.
Social-Media-Sucht ist keine anerkannte Diagnose
Es ist jedoch häufig so, dass Technologie immer häufiger vom realen Leben ablenkt und sogar zur Sucht werden kann. In Österreich ist Social-Media-Sucht noch keine anerkannte Diagnose, erklärt Julia Dier von der Therapie- und Beratungsstelle für Verhaltenssüchte an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Das wäre wichtig - etwa, damit die Krankenkasse Therapiekosten übernimmt.
Dier arbeitet hauptsächlich mit Kindern und hält auch Workshops an Schulen. In der Klasse lässt sie oft einschätzen, wie viele Stunden die Kinder und Jugendlichen pro Tag mit dem Smartphone verbringen. “3/4 der Leute unterschätzen ihren Konsum”, ist Dier überzeugt. Zumindest manchen Menschen helfen Zeitbenachrichtigungen oder Digital-Wellness-App, um ein Bewusstsein zu entwickeln, wie lange sie pro Tag mit welchen Medien verbringen.
Kinder wollen nicht aufhören
Auch die Schulkinder sind von ihrem Medienkonsum zunächst einmal geschockt. Für langfristige Verhaltensänderungen reicht das aber nicht aus. “Besonders Kinder wollen damit gar nicht aufhören”, weiß Dier. Und auch bei Erwachsenen sei ein Digital Detox oft nur von kurzfristigem Erfolg gekrönt.
Roland Mader, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie am Anton-Proksch-Institut, hält Kontroll-Apps für hilfreich. “Zur Kontrolle des eigenen Online-Verhaltens sind sie eine sehr gute Option”, sagt er gegenüber der futurezone. “Sich die Nutzung bewusst zu machen, ist sicher der erste Schritt”, ist Mader überzeugt. Auch Digital Detox, also der bewusste Verzicht digitaler Medien, helfe, besser mit ihnen umzugehen.
Mehr Depressionen und Ängste
Dabei ist nicht nur Sucht ein Problem. Auch Depressionen und Ängste werden durch übermäßigen Social-Media-Konsum verstärkt. Ein Team der Universität Cambridge wertete etwa Daten zweier Langzeitstudien aus, die unter anderem die Lebenszufriedenheit von rund 80.000 10- bis 80-Jährigen abfragten. Besonders Teenager, 11- bis 13-jährige Mädchen und 14- bis 15-jährige Burschen, gaben an, deutlich unzufriedener zu sein, je mehr sie über Social Media kommunizierten.
Auffällig war außerdem, dass nicht nur Jugendliche in der Pubertät negative Einstellungen aufwiesen, sondern auch junge Erwachsene im Alter von 19 Jahren. Die Forscher*innen gehen davon aus, dass hier Lebensveränderungen wie der Auszug aus dem Elternhaus oder der Beginn des Arbeitslebens eine Rolle spielen könnten.
Laut Dier sei es ebenso wichtig, den Ursachen der ungesunden Mediennutzung auf den Grund zu gehen. “Niemand hat ganz plötzlich eine Mediensucht”, sagt sie. Unzufriedenheit in der Arbeit, Probleme in der Beziehung oder Mobbing in der Schule gehen mit einem solchen Suchtverhalten oft einher. Kinder wie Erwachsene suchen deshalb Ablenkung am Handy.
Soziale Medien beeinschränken soziale Entwicklung
Laut Mader werden soziale Medien eher von Mädchen genutzt als von Burschen. “Die Nutzung beginnt oft sehr früh, nämlich mit dem Erhalt des ersten Smartphones”, erklärt Mader. Gerade bei jungen Menschen stelle eine zu intensive Nutzung von sozialen Netzwerken eine Gefahr dar, da die soziale Entwicklung dadurch beeinträchtigt werden kann. Burschen und junge Männer verbringen ihre Zeit hingegen eher mit Online-Spielen.
Dier und Mader betonen jedoch beide, Aktivitäten in der realen Welt bewusst zu fördern. Das fängt bereits bei den Eltern an, die selbst ihre Smartphonenutzung einschränken und mit gutem Beispiel vorangehen sollten.
Zudem sollte man nicht vergessen, dass das Geschäftsmodell sozialer Medien darauf aufgebaut ist, möglichst viel Zeit mit ihnen zu verbringen, damit User*innen möglichst viel Werbung konsumieren.
Soziale Medien nicht verteufeln
Man sollte soziale Medien jedoch nicht nur verteufeln. Das Verhalten in den sozialen Medien kann auch einiges über den psychischen Zustand der Nutzer*innen verraten. So konnten etwa Forscher*innen des Darthmouth College eine künstliche Intelligenz trainieren, anhand Social-Media-Postings frühe Anzeichen von psychischen Erkrankungen zu erkennen.
Soziale Medien sind nicht von Grund auf schlecht. Sie können vernetzen, unterhalten oder informieren. Es gilt jedoch: Die Dosis macht das Gift.
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