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Meinung

Weihnachten und Wissenschaft

Individualismus ist eine feine Sache. Es ist gut, selbstständig zu denken, Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen und eigene Ideen zu entwickeln, anstatt bloß im Strom der anderen mit zu schwimmen. Aber die Pandemie und der Lockdown lassen uns deutlich spüren: Das alleine genügt nicht. Wir brauchen einander. Leider übersehen wir das oft.

Was zeichnet uns Menschen wirklich aus? Was sind die großen Leistungen, die uns von anderen Säugetieren unterscheiden? Wir haben die Quantenphysik erfunden, Orchester gegründet und Raketen zum Mond geschickt. All das ist nur durch intensive Zusammenarbeit möglich – nicht nur innerhalb kleiner Herden oder Rudel, wie man das von unseren engsten Verwandten aus dem Tierreich kennt, sondern auf tiefere, weitreichendere und oft sogar weltumspannende Weise.

Das falsche Klischeebild vom einsamen Forscher

In der Wissenschaft wird das besonders deutlich. Egal ob es um die Erforschung des Weltraums geht, oder um die Entdeckung winziger Teilchen, um die Entwicklung eines Impfstoffs oder eines neuartigen Computerchips: Moderne Forschung ist nicht die Arbeit einzelner Genies, die sich einsam zwischen verstaubten Bücherbergen in dunklen Schreibstuben ihre Ideen aus dem Hirn quetschen, sondern das Zusammenschalten menschlicher Gedanken zu etwas Größerem.

Dabei geht es nicht bloß um Arbeitsteilung, wie bei Leuten, die nebeneinander an Fließbändern stehen. Wissenschaft hat auch nichts mit einer Kampftruppe zu tun, die im Gleichschritt vorwärts marschiert, wie die Befehlshaber das beschlossen haben. Wissenschaft funktioniert komplexer und subtiler, eher wie die Arbeit an einem Ameisenhaufen, wo aus einem scheinbar chaotischen, unkoordinierten Gewimmel auf seltsame Weise am Ende etwas Großes entsteht, von dem alle etwas haben.

Keine einzige Ameise hat einen Bauplan des Ameisenhaufens im Kopf, mit all seinen Gängen und Verzweigungen. Aber das Ameisenvolk insgesamt hat ihn erschaffen. Und kein Mensch auf der Welt versteht die Wissenschaft, mit all ihren Gesetzen und Phänomenen. Aber die Menschheit insgesamt, als Spezies, hat sie verstanden.

Die Wissenschaft ist zu groß und zu komplex um in einen einzelnen Kopf zu passen, selbst wenn es sich um den Kopf eines Genies handelt. Aber gemeinsam tragen wir sie in unseren Köpfen. An dieser kollektiven Leistung sind wir alle beteiligt, egal ob wir uns mit Wissenschaft beschäftigen oder nicht. Jeder Mensch ist Teil dieses großen sozialen Netzes, in dem großartige Ideen entstanden sind. Und daher dürfen wir auch mit Recht alle gemeinsam stolz sein, auf die guten Ideen, die unsere verrückte, schreckliche, liebenswerte Menschheit im Lauf der Zeit hervorgebracht hat.

Gemeinsam für mehr Gemeinsamkeit

Deshalb darf kein Lockdown, kein Besuchsverbot, so nötig es auch sein mag, jemals als Normalzustand gesehen werden. Auch wenn dieses Weihnachtsfest ein bisschen weniger gemeinschaftlich wird als sonst: Wir gehören zusammen. Das liegt in unserer Natur. Genau das ist es, was uns als Spezies definiert. Und unsere großen, gemeinsamen Probleme lösen wir durch große gemeinsame Anstrengungen – etwa durch Impfstoffe gegen COVID-19, die in internationaler Gemeinschaftsarbeit in Rekordzeit entwickelt, getestet und produziert wurden. Gemeinschaftliche Arbeit sorgt somit dafür, dass wir unsere Gemeinschaft in Zukunft wieder gemeinsam feiern können. Und darauf sollten wir uns gemeinsam freuen.

Zur Person

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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