Ohne Insulin steigt der Blutzuckerspiegel in gefährliche Höhen (Symbolbild).
Gentest für Typ-1-Diabetes: 1 Tropfen Blut genügt
„Typ-1-Diabetes ist die häufigste chronische Stoffwechselerkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Oft wird die Diagnose zu spät gestellt, die Patientinnen und Patienten kommen häufig in recht schlechtem Zustand zu uns“, schildert Dr. Birgit Rami-Merhar.
Sie ist Leiterin des Spezialbereichs Pädiatrische Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde an der MedUni Wien. Gemeinsam mit ihrem Team betreut sie etwa 350 Patientinnen und Patienten. Insgesamt sind hierzulande etwa 30.000 Menschen, davon rund 3.500 Kinder und Jugendliche, betroffen.
Insulinproduzierende Zellen gehen zugrunde
Die Erkrankung ist tückisch: Das Immunsystem greift die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse – auch Betazellen genannt – an, sodass diese zunehmend zugrunde gehen.
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„Insulin ist ein lebensnotwendiges Hormon“, betont Rami-Merhar. Es ist erforderlich, um Zucker im Stoffwechsel zu verwerten. Ist es nicht in ausreichender Menge vorhanden, sammelt sich Zucker im Blut an, was zunächst zu starkem Durst, erhöhtem Harndrang, Müdigkeit, Übelkeit und Gewichtsverlust führt.
Birgit Rami-Merhar ist Leiterin des Spezialbereichs Pädiatrische Diabetologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde an der MedUni Wien.
© Privat
Lebensbedrohliche Folgen
Dieser krankhaft erhöhte Blutzuckerspiegel ist auch als Hyperglykämie bekannt und kann bei längerer Dauer eine lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisung, Ketoazidose genannt, zur Folge haben.
Gleichzeitig bekommt der Körper ohne das Insulin, das die Aufnahme von Zucker ermöglicht, nicht ausreichend Energie, weshalb körpereigene Zucker- und später Fettreserven abgebaut werden. Bleibt Typ-1-Diabetes unbehandelt, nehmen Nerven und Blutgefäße Schaden. Die Lebenserwartung sinkt deutlich.
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Seit etwa 100 Jahren behandelbar
„Bis vor 100 Jahren ist man daran noch gestorben“, sagt Fredrik Debong. Der studierte Medizin-Informatiker hat nach dem erfolgreichen Verkauf seiner Diabetes-App „mySugr“ den Risikokapital-Fonds 1921.vc gegründet – benannt nach dem Jahr, in dem die Insulintherapie entdeckt wurde.
Der gebürtige Schwede wurde vor über 40 Jahren mit Typ-1-Diabetes diagnostiziert. Trotz großer technischer Fortschritte sei der Umgang damit auch heute noch sehr anstrengend:
„Ich muss auch mit Sensoren und automatischen Pumpen über 170 Mal pro Tag an die Therapie denken. Ich muss immer noch Kohlenhydrate abschätzen und auf meinem Gerät herumdrücken. Wenn ich Sport machen möchte, muss ich das schon zwei Stunden vorher wissen.“
Fredrik Debong hat den Risikokapital-Fonds 1921.vc gegründet.
© Anna Clara Holmberg
Derzeit nicht heilbar
Debong hat sich daher zum Ziel gesetzt, mit seinem Fonds und seiner Expertise junge Start-ups zu unterstützen, die daran arbeiten, Typ-1-Diabetes erträglicher zu machen. Heilen kann man die Erkrankung nach heutigem Stand der Medizin nämlich nicht.
Die Forschung arbeitet derzeit an Möglichkeiten, die Zerstörung der Betazellen zu verlangsamen und damit das Einsetzen der Symptome zu verzögern. Je früher man von der Autoimmunerkrankung weiß, desto schneller kann man sie mit einer Insulintherapie behandeln.
Vorstadien erkennen
Relativ neu sei, dass man Typ-1-Diabetes in Stadien einteilt und auch schon Vorstufen diagnostizieren kann, bevor Insulin benötigt wird, erläutert Rami-Merhar: „Die Krankheitsentstehung erklärt man sich so, dass es auf Basis eines erhöhten genetischen Risikos zu einer Aktivierung des Immunsystems kommt. Dabei entstehen Diabetes-Autoantikörper.“
Diese lassen sich im Blut nachweisen. Das ermöglicht eine Diagnose – weit bevor Patientinnen und Patienten Symptome spüren oder erhöhte Blutzuckerwerte aufweisen.
Nicht ausreichend Fachpersonal
Kinderärztin Rami-Merhar vom AKH Wien würde sich ein populationsbezogenes Antikörper-Screening wünschen, in dem alle Kinder und Jugendlichen in Österreich in regelmäßigem Abstand auf ihr Typ-1-Diabetes-Risiko getestet werden.
„Leider haben wir bereits jetzt nur halb so viel Fachpersonal, wie wir für die Versorgung laut internationaler Leitlinien brauchen würden“, bedauert die Diabetologin. Immerhin ermöglicht nun eine internationale Forschungsinitiative eine einigermaßen breit aufgestellte Untersuchung für Neugeborene.
Freder1k-Studie untersucht Neugeborene
An der „Freder1k“ betitelten Studie, ausgehend vom Helmholtz-Zentrum in München, sind seit August auch Rami-Merhar und ihr Team von der MedUni Wien am AKH sowie das Krankenhaus Goldenes Kreuz beteiligt. Weitere Gesundheitseinrichtungen im Osten Österreichs sollen folgen.
Säuglingen werden an den ersten Lebenstagen ohnehin routinemäßig ein paar Tropfen Blut aus der Ferse entnommen. Wenn die Eltern zustimmen, wird dieses im Rahmen der Freder1k-Studie auf ein erhöhtes genetisches Risiko für Typ-1-Diabetes getestet. „Etwa eins von 100 Kindern hat ein erhöhtes Risiko. Unser Ziel ist aber nicht nur zu screenen, sondern die Teilnahme an weiteren Forschungsprojekten zu ermöglichen“, sagt Rami-Merhar.
Prävention durch COVID-19-Impfung
Betroffene Babys können an der AVAnT1A-Interventionsstudie teilnehmen. Sie untersucht, ob eine Impfung gegen COVID-19 ab dem Alter von 6 Monaten die Entstehung der entsprechenden Autoantikörper – und damit womöglich Typ-1-Diabetes – verhindern kann.
„Hintergrund ist der, dass die Kollegen im GPPAD-Forschungsnetzwerk im Rahmen der Pandemie gesehen haben, dass nach einer Covid-Infektion das Risiko für Typ-1-Diabetes 5 Mal so hoch war“, sagt Rami-Merhar. Auch von anderen Virusinfektionen wird angenommen, dass sie die Entstehung der Stoffwechselerkrankung begünstigen. Über Speichel- und Stuhlproben der teilnehmenden Kinder wollen die Forscherinnen und Forscher zusätzlich die beteiligten Viren identifizieren.
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Impfstoff gegen Typ-1-Diabetes
Einige der Medizin-Start-ups, mit denen Debong arbeitet, beschäftigen sich mit spezifischen Impfstoffen gegen Typ-1-Diabetes. Außerdem hat er in Projekte, die an neuen Früherkennungsmethoden arbeiten, investiert: „Ein Team hat einen Test entwickelt, der mit hoher Genauigkeit das genetische Risiko ausweisen kann – mit einem Wangenabstrich, ganz ohne Blutabnahme.“
Wie bei vielen anderen schweren Krankheiten – Krebs und AIDS, um nur zwei Beispiele zu nennen – wurde vor einigen Jahrzehnten davon ausgegangen, dass Typ-1-Diabetes spätestens im 21. Jahrhundert heilbar wäre. Doch die Erkrankung ist außerordentlich komplex.
Kostengünstige und niedrigschwellige Therapien nötig
Faktoren wie hormonelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder der Einfluss des Zyklus oder der Menopause seien sowohl bei der Entstehung als auch in der Therapie längst nicht ausreichend verstanden, sagt Debong.
Er hält es für enorm wichtig, dass vor allem kostengünstige und niedrigschwellige Therapien entwickelt werden: „Wir in Österreich können so viel machen und bekommen die Hilfe, die wir brauchen, aber das ist nicht überall so. Wenn du zum Beispiel in Bangladesch lebst, bist du mit dieser Krankheit immer noch schnell tot.“
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