Was ist eigentlich das Higgs Boson?
Peter Higgs wurde 94 Jahre alt. Am Montag starb der Wissenschaftler, der 2013 für die Entdeckung des sogenannten „Higgs Boson“ gemeinsam mit François Englert den Nobelpreis für Physik erhielt.
Die meisten haben wahrscheinlich schon einmal von diesem mysteriösen Teilchen (ein Boson ist eine spezielle Art von Teilchen) gehört, vielleicht auch unter der von Physiker*innen wenig geschätzten Bezeichnung "Gottesteilchen". Aber was dieses genau ist oder was es tut, ist nicht einfach zu verstehen.
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Als die Physiker*innen am europäischen Kernforschungszentrum CERN am 4. Juli 2012 bekannt gaben, dass sie das Higgs-Teilchen in ihrem LHC-Teilchenbeschleuniger entdeckt haben, lösten sie damit eine Welle der Begeisterung in der Wissenschafts-Community aus – danach war nichts mehr wie zuvor.
Das Verständnis von der Funktionsweise der Welt in ihrer kleinsten möglichen Auflösung hatte sich damit grundlegend geändert. Das Besondere an dieser Entdeckung war allerdings nicht das Higgs Boson selbst – vielmehr bewies die Existenz des Teilchens wiederum die Existenz des Higgs-Feldes, das zuvor jahrzehntelang nur theoretisch berechnet wurde.
Wissenschaft der Elementarteilchen
Die Geschichte dieser Entdeckung beginnt schon 1964. Die Idee von Peter Higgs und Kolleg*innen war, dass unser Universum kein Vakuum ist, sondern von einer Art Feld durchdrungen wird, das den Teilchen, die dort unterwegs sind, ihre Masse verleiht. Dieses nannten sie Higgs-Feld.
Davor hatte man sich nämlich mit einem mathematischen Problem gequält, wie der Hochenergiephysiker Christoph Schwanda von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erklärt: „Ein Atom ist für uns nicht das Allerkleinste.“ Atome haben eine Hülle und in ihrem Kern stecken noch kleinere Teilchen mit Protonen und Neutronen, die sich wiederum aus noch kleineren Teilchen zusammensetzen.
„Nach heutigem Verständnis sind das die elementaren Bestandteile“, erklärt Schwanda. Insgesamt unterscheidet man zwischen 12 dieser sogenannten Elementarteilchen, die Grundbausteine unserer Materie.
Was gibt den allerkleinsten Teilchen ihre Masse?
„Nach unserem heutigen Verständnis gibt es zwischen diesen Elementarteilchen 4 verschiedene Wechselwirkungen“, sagt Schwanda. Dazu zählen die elektromagnetische, die Gravitation und die sogenannte starke und schwache Wechselwirkung. 3 von 4 konnte man vor der Higgs-Theorie mit sogenannten Eichtheorien mathematisch beschreiben.
„Dieses Modell war mathematisch sehr schön, aber es hatte den Schönheitsfehler, dass es keine Massen beschrieben hat. Higgs und seine Kollegen haben das gelöst: Sie schlugen einen Weg vor, wie man diese Massen-Terme hinzufügen kann.“ Die mathematische Lücke schlossen Higgs und seine Kolleg*innen durch die Hinzufügung eines weiteren Teilchens – des Higgs-Teilchens. Sie hielten es für am plausibelsten, dass es ein solches Feld geben müsse, dass den Teilchen durch Wechselwirkungen Masse verleiht.
Wie eine Cocktail-Party
Der britische Physiker David Miller verglich das Higgs-Feld mit einem Raum voller Physiker*innen, die sich für eine Cocktail-Party versammeln. Zunächst sind die Physiker*innen wie Teilchen gleichmäßig im Raum verteilt. Sie sprechen mit ihren Nachbarn*innen. Plötzlich kommt ein Elementarteilchen dazu, bei der Cocktail-Party in der Gestalt von Albert Einstein.
Wenn bei der Party keine Gäste wären, könnte Einstein schnell durch den Raum gehen. Aber es sind viele Menschen da und weil Einstein der berühmteste Physiker ist, scharen sich andere Menschen rasch um ihn, um mit ihm zu reden. So bekommt Einstein als Teilchen Widerstand in seiner Fortbewegung – er erhält Masse. Dasselbe gilt auch für Elementarteilchen, die sich durch ein Higgs-Feld bewegen. Deshalb wird dieses Prinzip als Higgs-Mechanismus bezeichnet.
Das Higgs-Teilchen verglich Miller mit einem Gerücht, das plötzlich die Runde macht, das ein Mann im Eingangsbereich erzählt. Partygäste in der Nähe erfahren es zuerst, aber andere werden angelockt, weil sie es auch erfahren wollen.
Dadurch bildet sich eine Menschentraube, die sich wie eine Welle durch den Raum bewegt – diese Traube entspricht dem Higgs Boson. Eine ähnliche Analogie ist ein Schneefeld, das der Physiker John Ellis in folgendem Video hernimmt:
Langwierige Suche nach dem Higgs-Teilchen
Ab den 1960er-Jahren begab man sich auf die Suche nach dem realen Beweis des Higgs-Teilchens. „Das Problem war zunächst, dass man gar nicht wusste, wonach man in der Realität suchen soll. Es war eine Masse in der Theorie, aber man kannte den genauen Wert nicht“, sagt Schwanda. Später führte man die Suchen mit dem Teilchenbeschleuniger am CERN durch. Das Problem war lange Zeit, dass man mit zu geringen Energien suchte. Ab 2010 wurde dort in einem bisher nicht erreichbaren Energiebereich geschossen: „Mit der neuen Maschine fand man das Higgs-Teilchen innerhalb von 3 Jahren.“
Der Teilchenbeschleuniger ist ein großer Ring mit einer Länge von 27 Kilometern. Dieser wurde ausgebaut. „Der Tunnel ist derselbe geblieben, aber man hat anstatt einer Elektron-Positron-Maschine dort eben eine Proton-Proton-Maschine installiert, mit der im Jahr 2012 tatsächlich das Higgs-Teilchen nachgewiesen wurde“, sagt Schwanda.
Im Teilchenbeschleuniger werden Protonen aufeinander geschossen, so dass diese miteinander kollidieren. „Diese Events sind sehr kompliziert, da fliegen hunderte Spuren herum - die Schwierigkeit ist es, daraus in Echtzeit etwas auszulesen“, erklärt Schwanda: „Man braucht entsprechende Software und Verfahren, um damit die Stecknadel aus dem Heuhaufen heraus zu filtern.“
Gigantische Experimente im CERN
3.000 Wissenschaftler*innen seien an einem solchen Experiment beteiligt. Es braucht Expert*innen, die die Detektoren betreiben, ebenso für die Beschleuniger und die Datenauswertung. „Es sind gigantische Mengen an Daten, die in einem internationalen Computerverbund namens GRID analysiert werden“, erklärt Schwanda.
Auf der Jagd nach dem Higgs-Teilchen hielten die Forschenden nach einer gewissen statistischen Häufung von Masseneigenschaften Ausschau: „Man hat ungefähr gewusst, wo diese Higgs-Masse ist, allerdings nicht ganz genau“, sagt Schwanda.
Jetzt soll Dunkle Materie erklärt werden
2012 fand man das Teilchen endlich – damit wurde das Standardmodell der Teilchenphysik vollständig und die Existenz des Higgs-Feldes bewiesen. Abgeschlossen ist die Forschung damit aber nicht, wie Schwanda betont: „Man kann sich jetzt fragen, warum wir immer noch Teilchenphysik machen. Wir haben jetzt ein Standardmodell – das Higgs-Teilchen war der letzte Baustein dafür.“ Man könnte jetzt sagen: Wir sind fertig, wir haben die Welt des Allerkleinsten verstanden.
„So ist es aber nicht“, meint der Physiker, denn: „Die Astronomen sagen uns, dass das Standardmodell nur 5 Prozent des Energieinhalts des Universums beschreibt.“ Phänomene wie Dunkle Materie im Weltall lassen sich damit nicht erklären.
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„5-mal häufiger als diese normale Materie ist diese sogenannte Dunkle Materie. Wenn es diese nicht geben würde, würden sämtliche Galaxien auseinanderfallen.“ Dunkle Materie brauche es, damit Galaxien zusammenhalten, diese Kraft sei noch nicht verstanden. Jetzt suchen die Physiker*innen nach diesen Teilchen: „Unser großes Thema ist jetzt: Wo ist diese Physik jenseits des Standardmodells?“
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