© AIT/Wahlüller-Schiller/futurezone

Science

Wie Sanitäter mit Mixed Reality für Katastrophen trainieren

Ein Reisebus prallt im Tunnel gegen eine Schutzplanke, wird in die Fahrbahnmitte geschleudert und kippt. Die Folge: 20 Verletzte, darunter 3 Kinder. Die medizinische Versorgung muss rasch passieren. 4 Ersthelfer*innen kümmern sich wenige Augenblicke später um die Opfer – eine schwer verletzte Person muss reanimiert werden. Die Zeit tickt.

Bei Katastrophen wie Busunfällen, Flugzeugabstürzen oder Erdbeben, die gleich mehrere Verletzte fordern, stehen Einsatzkräfte unter besonders hohem Druck. Sie müssen um Leben kämpfen und gleichzeitig den Überblick bewahren. Damit ein solch umfassender Rettungseinsatz reibungslos gelingen kann, soll künftig Mixed Reality (MR) zum Einsatz kommen.

➤ Mehr dazu: Wie die Polizei Verbrechen in der virtuellen Welt bekämpft

Dabei werden virtuelle Szenarien mit realen Objekten, wie Beatmungsbeutel oder Reanimationshilfen, in Echtzeit gekoppelt. Durch die Brille sehen die Träger*innen die Umgebung so, als würden sie sich beispielsweise in einem Tunnel befinden, obwohl sie in Wirklichkeit im eigenen Ausbildungszentrum sind. Auch können virtuelle Verletzte eingeblendet werden, um ein realistisches Szenario zu ermöglichen.

Reale Hightech-Puppen

Das „EU Horizon 2020“-Forschungsprojekt „MED1stMR“ soll künftig für medizinische Einsatzkräfte in ganz Europa zum Einsatz kommen. Dabei tragen die Einsatzkräfte eine MR-Brille und spielen die Unglücksfälle durch. Zusätzlich zu den virtuellen Opfern kommen Hightech-Simulationspuppen („Manikins“) zum Einsatz.

„Komplexe Notfallsituationen mit vielen unterschiedlichen Verletzungen werden in einer sicheren Umgebung trainiert – auch mit zusätzlichen Stressoren wie Kindern oder Senioren. Vom Busunfall bis hin zum Terroranschlag sind viele Szenarien möglich“, sagt Helmut Schrom-Feiertag, Projektkoordinator und Forscher am AIT Center for Technology Experience. Das Training ist an den jeweiligen Ausbildungsstand anpassbar und an jedem Ort ausführbar. 

Johanniter mit VR-Brille

Direkte Antworten

Für Notfallorganisationen hat das einen großen Nutzen. Beispielsweise sind reale Tunnel-Übungen mühsam zu organisieren, weil dafür ein Tunnel abgesperrt werden muss. „Wenn diese aber simuliert werden, entstehen weniger Aufwand und Kosten. Auch braucht es keine Schauspieler mehr, weil die Manikins und virtuellen Avatare die Rolle der Verletzten übernehmen“, sagt er.

Die Puppen können reagieren und mit den Trainierenden interagieren. Sie können sowohl den Brustkorb heben und senken als auch den Puls spürbar machen. „Sie sind mit Sensoren bestückt und sammeln direkt Daten, was von den Trainierenden richtig oder falsch ausgeführt wurde“, erzählt Schrom-Feiertag der futurezone. In Zukunft soll es auch möglich sein, dass die Manikins direkt auf Anfragen mit Antworten reagieren.

Trainingsrichtlinien

Laut der AIT-Marketing-Managerin Christine Wahlmüller-Schiller seien immer 4 Trainierende und ein*e Trainer*in an einer Trainingseinheit beteiligt. „Davor müssen sie aber unterwiesen und mit der Ausrüstung wie MR-Brille und Sensoren ,bestückt’ werden. Die Geräte werden am Trainingsareal kalibriert. Vor dem Training, wenn alle ausgerüstet sind, und während des Trainings werden zudem Biosignale und Stresslevel der Teilnehmenden aufgezeichnet.“

Insgesamt gibt es 6 Praxistests – der erste fand im Juli in Österreich statt. „Anhand dieser Praxistests wird vor Ort Feedback von den Trainierenden eingeholt und der Prototyp angepasst“, sagt Wahlmüller-Schiller. 

Beim MR-Training im Einsatz: Trainer Reinhard Heindl, stv. Leiter Ausbildungszentrum der Johanniter

Die größte Herausforderung sei, die Vorstellungen von 18 unterschiedlichen europäischen Partnern zusammenzubringen. „Die Koordination, die von unserer Seite passiert, und die Entwicklung des Trainings-Prototypen, ist relativ aufwendig.“ In den einzelnen europäischen Ländern werden Training und Ausbildung der Notfallsanitäter*innen zudem anders gehandhabt: „Da einen Konsens zu erzielen, ist nicht so einfach.“

Alle Einsatzkräfte

Im September wird eine zusätzliche Tunnelübung im Zentrum am Berg der Montanuniversität Leoben stattfinden. An dieser werden nicht nur Sanitäter*innen, sondern gleichzeitig auch die Polizei und Feuerwehr teilnehmen. Dadurch sollen zusätzliche Erkenntnisse für die Weiterentwicklung des MR-Trainingssystems gewonnen werden. Abhängig von den Rückmeldungen der Organisationen zum Prototypen sei die Realisierung 2024 oder 2025 realistisch.  

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Kooperation zwischen AIT und futurezone.at.

Virtuelle Realität bei der Feuerwehr

Immer mehr Feuerwehren weltweit setzen auf die virtuelle Realität (VR), mit der das Personal den Einsatz in gefährlichen Brandsituationen trainieren kann. Auch die kanadische Feuerwehr von Calgary hat unlängst ein VR-Programm gestartet. Dieses zielt allerdings darauf ab, die Bürger*innen über Brandschutz aufzuklären und ihnen ein immersives Erlebnis zur Reduzierung von Bränden und Verletzungen zu bieten. 

Das Programm wurde in Zusammenarbeit mit der Stadt Calgary und dem Unternehmen ConocoPhillips entwickelt und bietet ein realistisches und umfassendes Erlebnis, bei dem Nutzer*innen lernen, wie sie Gefahren in einem virtuellen Zuhause erkennen und mit dem Feuer, etwa durch einen Herdbrand ausgelöst, umgehen können.

Das VR-Programm ist in 7 Sprachen verfügbar. Die Feuerwehr von Calgary plant zudem, das Programm in den nächsten 2 Jahren an ausgewählten Schulen und bei Veranstaltungen einzuführen. So sollen die Menschen etwa lernen, einem Feuer im eigenen Haus zu entkommen. Auch will man nach Möglichkeiten suchen, es für alle Menschen zugänglich zu machen – auch für jene, die kein VR-Headset besitzen.

Realitätsnähe

In Deutschland trainiert die Freiwillige Feuerwehr Linkenheim-Hochstetten mit dem sogenannten „Firefighter VR“-System. Das ist eine Trainingsplattform für die virtuelle Aus- und Weiterbildung im Feuerwehrbereich. Damit können unterschiedliche Brandsituationen regelmäßig trainiert werden. Zu den insgesamt 19 Trainings zählen etwa Elektronik-, Büro- und Gastankbrände.  

Das neue System punktet vor allem mit seiner Realitätsnähe und Zugänglichkeit. Auch können die Feuerwehrleute die gefährlichen Brandsituationen unter sicheren Bedingungen absolvieren.   

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Andreea Bensa-Cruz

Andreea Bensa-Cruz beschäftigt sich mit neuesten Technologien und Entwicklungen in der Forschung – insbesondere aus Österreich – behandelt aber auch Themen rund um Raumfahrt sowie Klimawandel.

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