Der verrückte britische Monster-Panzer, aus dem nichts wurde
120mm. Das ist derzeit der goldene Standard für moderne Kampfpanzer. Immer bessere Panzerungen, besonders Reaktivpanzerungen, könnten jetzt zu einem Umdenken führen. Sowohl für den Leopard-Nachfolger als auch den M1A3 Abrams sind Hauptkanonen mit 130mm und 140mm angedacht.
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Verglichen mit dem FV4005 ist das höchstens ein Mini-Upgrade. Der britische Kampfpanzer hatte eine Kanone im Kaliber 183mm – und das schon in den 50er-Jahren.
Das ambitionierte Projekt schlug ultimativ fehl und geriet in Vergessenheit. Jetzt ist der FV4005 wieder ins Rampenlicht gerückt. Einer der 2 jemals hergestellten Prototypen wurde originalgetreu restauriert.
Bedrohung durch Russlands schwere Kampfpanzer
Die Idee für den FV4005 kam Ende der 40er-Jahre auf. Der Kalte Krieg begann und damit das Wettrüsten. Großbritannien wollte ein effektives Mittel gegen den sowjetischen IS-3 finden. Der schwere Kampfpanzer wurde ab 1945 produziert. Er kam zu spät für den Einsatz gegen Deutschland, galt aber aufgrund seiner 122mm-Kanone und für damals modernen Konstruktion und dicken Panzerung als „the tank to beat“ – also den Panzer, den man schlagen musste.
Das britische Konzept sah vor, sich gar nicht erst auf Panzerduelle mit dem IS-3 und seinen potenziellen Nachfolgern, einzulassen. Stattdessen sollte er zerstört werden, noch bevor er nahe genug an die britischen Truppen herankommt, um seine 122mm-Kanone effektiv einzusetzen.
Daraus ergaben sich die Anforderungen an die neue Waffe. Eine Kanone sollte her, die eine 152mm (6 Zoll) dicke Panzerung, die in einem 60-Grad-Winkel angebracht ist, auf eine Entfernung von 1.830 Metern (2.000 Yards) durchschlagen kann. Damit sollte der IS-3 besiegt werden können, dessen schräge Wanne an der Front eine 110mm bis 120mm dicke Panzerung hatte.
Ende Dezember 1952 einigte man sich auf das Kaliber der benötigten Kanone und den Namen: „Ordnance, Quick-Firing, 183 mm, Tank, L4 Gun“. Es sollte bis heute die größte Kanone sein, die je in einen Kampfpanzer eingebaut wurde.
Exkurs: Es geht noch größer
Die Betonung dabei liegt auf Kampfpanzer – Main Battle Tank. Dies sieht eine rundum geschlossene Wanne vor, auf der ein ebenfalls rundum geschlossener Turm mit Kanone sitzt, der drehbar ist.
Das ist wichtig, denn geht man davon aus, dass ein Panzer „nur“ ein gepanzertes Kettenfahrzeug mit Kanone ist, sind die 183mm nicht das größte Kaliber. Deutschland nutzte im Zweiten Weltkrieg den Sturmmörser Tiger.
Dieser hatte einen 380mm-Mörser, der eigentlich für die Marine entwickelt wurde. Die Reichweite betrug 5 Kilometer. Eine spezielle Hohlladungsgranate sollte in der Lage sein, 2,5 Meter Stahlbeton zu durchschlagen. Eingesetzt werden sollte der Sturmmörser, um befestigte Stellungen und Bunker zu zerstören.
Das Geschütz wurde auf Fahrgestellen von beschädigten Tiger-Panzern gebaut, hatte aber keinen drehbaren Turm. Insgesamt wurden nur 10 Sturmmörser gebaut. Einen davon kann man im deutschen Panzermuseum Munster anschauen, das zweite verbliebene Stück ist in Russland im Panzermuseum Kubinka ausgestellt.
Stichwort Russland: Mit der 2B1 Oka wurde in der Sowjetunion die vermutlich größte Kanone auf Ketten gebaut. Dabei handelt es sich aber um eine Panzerartillerie, die keinen Turm hat und oben offen war. Das 420mm-Geschütz mit 18 Meter Länge versprach eine Reichweite bis zu 50 Kilometer. Das Projekt wurde 1960 aufgegeben.
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FV4005 als schnelle Lösung
Die 183mm-Kanone L4 sollte die Hauptbewaffnung des FV215 werden. Die Basis dafür sollten Wanne bzw. Fahrgestell der FV200-Serie sein, die ebenfalls ab Ende der 40er-Jahre entwickelt wurde. Die Entwicklung verzögerte sich aber mehrmals. Bis der erste FV214 Conqueror produziert wurde, sollte es 1955 werden.
Die Entwicklung des FV215 hätte dem britischen Militär aber zu lange gedauert. Man befürchtete, dass der Kalte Krieg „heiß“ wird, noch bevor er einsatzbereit ist. Also entschied man sich, die L4 auf eine bestehende Wanne der FV4000-Serie aufzusetzen. Diese kennt man vom Centurion-Kampfpanzer. Der wurde schon 1946 in Dienst gestellt und seitdem laufend weiterentwickelt.
Aus der Kombination der L4-Kanone und der Centurion-Wanne wurde das Projekt FV4005. Die Entwicklung sollte in 2 Stufen stattfinden: Stage 1 und Stage 2.
Stage 1: Panzer mit „nackter“ Kanone
Bei der Stage 1 sollte überprüft werden, ob die L4 überhaupt auf einem Centurion-Fahrgestell genutzt werden kann. Daher war die Kanone noch unverkleidet, also nackt. Sie war zwar um 360 Grad drehbar, konnte aber nur abgefeuert werden, wenn sie nach vorne ausgerichtet ist. Ein Schuss damit erzeugte nämlich eine Rückstoßkraft von 87 Tonnen. Würde der Panzer damit seitlich schießen, würde er umkippen.
Am hinteren Teil der Waffe wurde eine Schaufel gebracht. Vor dem Schießen der Kanone wurde diese heruntergelassen und in den Boden gesteckt. So sollte ein Teil der Rückstoßkraft in den Boden abgeleitet werden.
Die Beweglichkeit in der Vertikalen war aufgrund der Kanonengröße auch eingeschränkt und betrug lediglich -5 bis +10 Grad. Für schnellere Fahrten bzw. Transport musste ein Dreibein installiert werden, das die Kanone bei +2 Grad stabil hält. Für den Test von Stage 1 wurde die Kanone, soweit bekannt ist, nur mit dem Dreibein abgefeuert, um Problemen vorzubeugen.
Das Geschütz hatte eine Ladehilfe. Diese sollte Projektil und Treibladung vor dem Laden korrekt ausrichten. Das Trennen von Projektil und Ladung war nötig, weil es zusammen viel zu schwer gewesen wäre. Das 183mm-Projektil wog 65,8 kg und war 76cm lang. Die Treibladung wog 30,7 kg und war 68cm lang. Wäre das schon zusammengesetzt, hätten der Schütze und Ladeschütze zusammen fast 100 Kilogramm schwere Granaten laden müssen.
Stage 2: Ein Monster wird erschaffen
Obwohl es bei den Tests von Stage 1 Probleme mit dem Rückstoßsystem gab, wurde Stage 2 eingeleitet. Das offensichtliche Upgrade: Die L4-Kanone befand sich jetzt in einem Turm. Verglichen mit damaligen Panzern und modernen Kampfpanzern, ist dieser Turm riesig und unförmig.
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Das verleiht dem FV4005 seinen markanten „Frankenstein“-Look. Man sieht dem Panzer sofort an, dass dieses Geschütz nie für diese Wanne gedacht war. Obwohl der Turm monströs aussieht, war der Stahl nur 14mm dünn, weil das Fahrgestell nicht mehr Gewicht verkraftet hätte. Dies sollte zumindest reichen, um die Besatzung vor Splittern und Handfeuerwaffen zu schützen.
Das scheint kurios, da der riesige Turm ein leichtes Ziel ist und durch die dünne Panzerung von anderen Panzern spielend geknackt werden kann. Die Rechtfertigung dafür war, dass der FV4005 ja nie für offene Panzer-Duelle gedacht war. Er sollte, so wie vom Konzept vorgesehen, feindliche Panzer aus sicherer Entfernung zerstören. Der FV4005 war quasi eine Stand-Off-Waffe, noch bevor dieses Konzept modern wurde.
Selbst wenn ein Treffer der 183mm-Kanone nicht perfekt sitzen würde, ging die britische Armee davon aus, dass die Zerstörungskraft reicht, um die Ketten feindlicher Panzer zu zerlegen. Die sowjetischen Panzer könnten also nicht weiter vorrücken und wären „Sitting Ducks“ für Flugangriffe oder Artilleriebeschuss. In so einem Fall spricht man von einem „technischen Kill“. Im britischen Militärjargon ist das ein „M-kill“ – das M steht für Mobility (Mobilität).
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Nur 12 Schuss an Bord
Insgesamt konnte Stage 2 12 Granaten mitführen. Die Ladehilfe wurde aus Platzmangel gestrichen. Ein Mann war für das Laden des Projektils zuständig, der andere für das Laden der Treibladung.
Weil 12 Schuss sehr wenig waren, sah das Konzept ein Begleitfahrzeug vor. Ein Lkw sollte mehr Munition mitführen. An der Rückseite des Panzers befand sich ein Schienensystem und eine Winde, um die Projektile und Treibladungen vom Lkw aus in den Turm zu transportieren.
Beim Schießen gab es ähnliche Limitationen wie bei Stage 1. Das Geschütz musste nach vorne oder nach hinten ausgerichtet sein und hatte nur wenige Grad horizontalen Spielraum, weil der Rückstoß den Panzer sonst umkippen kann. Insgesamt wurden 1955 150 Schuss mit der Stage 2 abgefeuert. Zuerst sprach man hier von „befriedigenden Ergebnissen“.
Das Ende des Monster-Panzers
Im August 1957 wurde das Projekt FV4005 dennoch eingestellt, ebenso FV215. Die rüstungspolitische Erklärung war, dass die Sowjetunion weniger IS-3 produzierte als zuvor angenommen. Die Kategorie des schweren Kampfpanzern verschwand von den Schlachtfeldern und damit die Rechtfertigung für die 183mm-Kanone.
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Allerdings gab es auch technische Gründe. Durch die Größe und langsame Geschwindigkeit des 183mm-Projektils, war dieses sehr anfällig für Seitenwind. Die Präzision bei der gewünschten maximalen Einsatzreichweite von 2 Kilometern war inakzeptabel. Zudem dauerte das Laden zu lange. Innerhalb von einer Minute konnten nur 2 Schuss abgegeben werden.
Stattdessen entschied man sich für Panzerabwehrraketen. 1958 führte die britische Armee Malkara ein, eine der frühesten gelenkten Panzerabwehrraketen weltweit. Der Gefechtskopf wog zwar nur 26 kg, also weniger als die Hälfte des 183mm-Projektils.
Mit 4 Kilometern war die Reichweite aber doppelt so hoch und die Präzision größer. Zudem war Malkara bei der Plattform deutlich flexibler und konnte etwa auch auf Geländewagen genutzt werden. Speziell für Malkara wurde der FV1620 Humber Hornet entwickelt.
Was wurde aus den Prototypen?
Insgesamt wurden nur eine Stage 1 und 2 Exemplare der Stage 2 von FV4005 gebaut. Von allen 3 Stück wurden die Wannen abmontiert und wieder bei der britischen Armee bzw. für andere Versuche eingesetzt. Die Kanonen bzw. Türme wurden an militärische Forschungseinrichtungen übergeben.
In den 70er-Jahren übergab das Royal Military College of Sciene seinen Turm „The Tank Museum“ – dem britischen Panzermuseum in Bovington. Dort wurde er 2007 auf eine historisch nicht korrekte Wanne eines Centurion Mark 12 gesetzt.
Der Frankenstein-Panzer befand sich beim Ausgang des Museums. Er bekam den Spitznamen „Spud“. Der kommt von Harold Hamilton „Spud“ Taylor, einem WK2-Veteranen, der aktiv am FV4005-Testprogramm beteiligt war. Er gehört außerdem zu den Freiwilligen, die in der Werkstatt des Panzermuseums aushelfen.
Das Monster rollt wieder
Im November 2023 wurde die geplante Restauration des FV4005 angekündigt. Dabei handelt es sich um eine Kooperation mit dem Computerspiel World of Tanks und dem bekannten Militärfahrzeug-Restaurator A. W. Hewes.
Wargaming.net, der Publisher von World of Tanks, spendete 20.000 britische Pfund für das Projekt. Mittels Crowdfunding wurden weitere 20.000 britische Pfund gesammelt – in weniger als 24 Stunden.
Die Kosten konnten so gering gehalten werden, weil eine übrig gebliebene Wanne eines Centurion Mark 3 verwendet wurde. Das ist nicht nur zeitlich korrekt: Diese spezielle Wanne wurde nämlich ebenfalls für Testprojekte genutzt – wenn auch nicht für den FV4005.
Innerhalb von mehreren Monaten wurden Turm und Wanne repariert und restauriert. Fehlende Teile, wie das Schienensystem, die Winde und die Schaufel, wurden anhand der originalen Baupläne nachproduziert. Im Juni 2024 war der FV4005 fahrbereit.
Öffentlich vorgestellt wurde der rundum aufgefrischte Spud beim „Tankfest“ des Museums Ende Juni.