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Ukraine bekommt mysteriöse Rakete ERAM noch vor der US-Armee

Die Ukraine bekommt eine neue Waffe. Innerhalb der nächsten 6 Wochen sollen die ersten Exemplare von ERAM eintreffen, berichtet das Wall Street Journal. Was genau die Rakete kann und wer sie herstellt, ist noch geheim.

Insgesamt sollen 3.350 Stück des Marschflugkörpers geliefert werden. Die Kosten, rund 850 Millionen US-Dollar, werden zum größten Teil von europäischen Ländern übernommen, die die Ukraine finanziell und mit Rüstungsgütern unterstützten.

Mit diesem Bild hat die US Air Force das ERAM-Programm illustriert.

Günstige Marschflugkörper

ERAM steht für Extended Range Attack Munitions und ist nicht zu verwechseln mit der RIM-174 Standard ERAM. Bei der schiffsbasierten Luftabwehrrakete, die besser als SM-6 bekannt ist, steht ERAM für Extended Range Active Missile.

Das aktuelle ERAM-Programm der US-Streitkräfte wurde ausgeschrieben, um einen günstigen Marschflugkörper zu entwickeln, der möglichst rasch produziert werden kann. Die Anforderungen für diese Ausschreibung waren:

  • Mindestens 400 km Reichweite
  • Gesamtgewicht etwa 230 kg (500-Pfund-Klasse)
  • Maximalgeschwindigkeit von mindestens Mach 0,6 (740 km/h)
  • Gefechtskopf: Hochexplosiv mit Splitterwirkung, zumindest leichte Penetrationsfähigkeit gegen befestige Ziele (z.B. Bunker)
  • GPS gesteuert mit alternativer Steuerung für Gebiete mit aktiven GPS-Jammern
  • Präzision: Mindestens auf 10 Meter genau in 50 Prozent der Fälle
  • Produktion: Mindestens 1.000 Stück in 2 Jahren (9 bis 10 Stück pro Woche)

16 Firmen könnten Hersteller von ERAM sein

Ob der ERAM-Marschflugkörper, der an die Ukraine geliefert wird, tatsächlich alle diese Anforderungen erfüllt, ist derzeit nicht bekannt. Auf die Ausschreibung im Vorjahr haben sich 16 Firmen beworben, die vom Pentagon nicht namentlich genannt wurden. Bekannt ist nur, dass Coaspire und Zone 5 dazugehören.

Grafik des ETV-Flugkörpers von Zone 5.

Das macht Sinn, da beide Unternehmen bereits an ähnlichen Projekten arbeiten. Zone 5 ist beim ETV-Programm der US Air Force involviert, das darauf abzielt, Prototypen für günstige Marschflugkörper zu bauen.

Coaspire ist bei RAACM (Rapidly Adaptable Affordable Cruise Missile) der Air Force und US Navy dabei. Das Programm hat zum Ziel, einen günstigen, modularen Marschflugkörper zu entwickeln.

Man kann davon ausgehen, dass sich auch Lockheed Martin beworben hat. Der Rüstungskonzern hat schon vor ERAM an günstigen Marschflugkörpern gearbeitet. Boeing könnte eine Variante von PJDAM eingereicht haben. Dabei handelt es sich um ein Nachrüstkit, das aus üblichen Freifallbomben einen Marschflugkörper macht.

➤ Mehr lesen: Boeing macht aus alten Bomben günstige Marschflugkörper

Konzept-Bild von Boeings PJDAM.

Ebenso um ERAM buhlen könnten Anduril und Ares. Beide sind dem Ruf der US-Streitkräfte bei diversen Programmen gefolgt und wollen günstige, schnell zu bauende Marschflugkörper produzieren.

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ERAM wird von Kampfjets gestartet

In der ersten Phase werden die ERAM-Marschflugkörper von Kampfjets gestartet. Eine vom Boden gestartete Variante könnte aber später folgen.

Als Plattform für den Luftstart bietet sich die amerikanische F-16 für ERAM an, die die Ukraine bekommen hat. Die ukrainische Luftwaffe hat in der Vergangenheit zudem ihre Sowjet-Kampfjets MiG-29 und Su-27 für westliche Waffen mit GPS-Steuerung angepasst. Deshalb werden vermutlich auch diese ERAM nutzen können.

Warum ERAM für die Ukraine so wichtig ist

Taktisch ist eine Waffe wie ERAM enorm wichtig für die Ukraine. Da die Rakete ein Marschflugkörper mit hoher Reichweite ist, kann sie gestartet werden, bevor die Kampfjets in die Reichweite der russischen Luftabwehr geraten. Sollte ERAM aus niedrigen Flughöhen gestartet werden können, erhöht das zusätzlich die Überlebenschancen – die Maschine fliegt dann nicht nur sprichwörtlich unter dem Radar.

Bisher hatte die Ukraine nur weniger weitreichende Waffen in dieser Gewichtsklasse, wie die amerikanische Gleitbombe JDAM und die französische AASM Hammer, eine Gleitbombe mit Raketenantrieb. Um die Luftabwehr zu umgehen, wurden diese „geschupft“: Der Kampfjet fliegt tief bis kurz vor dem Abwurf, zieht in die Höhe, löst die Bombe und dreht sofort ab, um wieder in den Tiefflug überzugehen.

➤ Mehr lesen: MiG-29 erstmals bei "Hammer-Wurf" gefilmt: So funktioniert das Manöver

Weil ERAM leicht und günstig ist, kann ein Kampfjet davon mehrere Stück transportieren. 4 Stück pro Flieger wären vermutlich möglich, wobei die Ukraine in der Vergangenheit meistens nur 2 westliche Luft-Boden-Waffen pro Kampfjet genutzt hat. In dieser Konfiguration könnten z.B. 2 Su-27 aus sicherer Entfernung 4 ERAM gleichzeitig auf russische Ziele abfeuern. Das erhöht die Trefferquote, auch weil womöglich nicht alle Marschflugkörper von der russischen Luftabwehr abgefangen werden können.

Man muss nämlich davon ausgehen, dass ERAM aus Kostengründen keine ausgeklügelten Abwehrmechanismen eingebaut hat. Moderne Marschflugkörper haben Stealth-Eigenschaften, teilweise Täuschkörper und Sensoren, die erkennen, wenn sie anvisiert werden, woraufhin die Rakete Ausweichmanöver einleitet.

Die westlichen Modelle solcher Raketen haben aber Stückpreise von mehr als einer Million US-Dollar, während ERAM bei 250.000 US-Dollar liegt. Der tatsächliche Stückpreis ist womöglich niedriger und unter 200.000 US-Dollar. Denn beim aktuellen ERAM-Paket für die Ukraine sind vermutlich noch andere Kosten enthalten, wie Transport, Schulung und Wartungsmaterial.

USA muss zustimmen

Mit der Flexibilität eines Kampfjets und einer Reichweite von bis zu 400 km, hat die Ukraine mit ERAM eine Waffe, um Ziele weit hinter der Front anzugreifen – wie etwa Munitionslager oder Flughäfen in Russland. Allerdings gibt es hier einen Wermutstropfen. Wie das Wall Street Journal berichtet, müssen die USA vor jedem Einsatz von ERAM zustimmen, welche Ziele damit beschossen werden.

Diese Vorgabe gibt es bereits bei anderen von den USA gelieferten Waffen, wie etwa ATACMS. Die vom HIMARS gestartete Rakete hat eine Reichweite bis zu 300 km.

Obwohl der ehemalige Präsident Joe Biden gegen Ende seiner Amtszeit der Ukraine erlaubt hatte, ATACMS gegen Ziele in Russland einzusetzen, hat das Pentagon seit der Trump-Administration dies mehrfach abgelehnt. Es besteht also die Möglichkeit, dass ERAM nur innerhalb der Ukraine bzw. den besetzten Gebieten der Ukraine eingesetzt werden darf.

Ukraine rüstet mit eigenen Raketen auf

Diese Restriktionen sind ein Mitgrund dafür, warum die Ukraine ihre eigene Rüstungsindustrie hin Richtung weitreichender Waffen trimmt. Kürzlich wurde Flamingo vorgestellt, eine Rakete mit bis zu 3.000 km Reichweite.

➤ Mehr lesen: Ukraine will Russland mit Tausenden FP-5 Flamigos beschießen

Vor wenigen Tagen wurde zudem eine neue Variante von Neptun enthüllt. Dabei handelt es sich ursprünglich um eine von der Ukraine entwickelte Antischiffsrakete. Mit der wurde 2022 der Lenkwaffenkreuzer Moskwa versenkt, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte.

Die neue Variante soll eine Reichweite von 1.000 km statt 300 km haben und ein neues Zielsuchsystem, um Landziele mit hoher Präzision zu treffen. Details dazu und die offizielle Bezeichnung sind noch bekannt, weshalb sie vorerst Long Neptune genannt wird.

Die Rakete ist vermutlich knapp über 6 Meter lang, also 1,5 Meter länger als die bisherige Neptun. Der Durchmesser ist von 38 cm auf etwa 50 cm angestiegen. Bei der regulären Neptun wiegt der Gefechtskopf 150 kg. Wie viel er bei der Long Neptune wiegt, ist noch nicht bekannt.

Beta-Test in der Ukraine

Dass die Ukraine die neue ERAM noch vor den US-Streitkräften bekommt, ist nicht auf die plötzliche Generosität von Trump zurückzuführen. Vielmehr ist es eine Art Beta-Test in einem realen Konflikt. Die USA können so Informationen über die Wirksamkeit der Waffe sammeln, ohne selbst in die kriegerische Handlung involviert zu sein. Zuvor hat man das z.B. schon bei GLSDB gemacht – einer raketengestarteten Gleitbombe.

➤ Mehr lesen: Ukraine bekommt mächtige neue Waffe GLSDB

So haben die USA herausgefunden, dass GLSDB viel anfälliger für russisches GPS-Jamming ist, als man eigentlich gedacht hatte. Sollten die USA die Waffe zukünftig für sich einsetzen wollen, können sie diese Probleme vorher beheben.

Bei ERAM ist dieser Beta-Test besonders wichtig. Denn der Grund, warum die USA mehrere Programme zur Entwicklung von günstigen, schnell zu produzierten Marschflugkörpern haben, ist ein befürchteter Krieg mit China im Pazifik. China hat mehrfach angedroht, Taiwan erobern zu wollen und die USA haben mehrfach zurückgedroht, Taiwan in so einem Fall militärisch beizustehen.

China ist derzeit die einzige Nation weltweit, die mit den US-Streitkräften nicht nur technologisch, sondern auch mengenmäßig mithalten kann. Wenn die USA hier nur auf wenige, sehr fortschrittliche Waffensysteme setzen, könnte dafür die Munition ausgehen. Mit Raketen wie ERAM, ETV und RAACM setzt man also auf Masse statt Klasse, um kleinere Ziele zu bekämpfen und um die Luftabwehr zu überlasten, während die teuren Marschflugkörper für wichtigere Ziele genutzt werden.

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Gregor Gruber

Testet am liebsten Videospiele und Hardware, vom Kopfhörer über Smartphones und Kameras bis zum 8K-TV.

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