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© APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK / VLADIMIR SIMICEK

Meinung

Wir müssen rote Linien ziehen - aber richtig!

Wir haben ein Problem. Der Anteil der Ungeimpften ist hoch, die Krankenhäuser sind überlastet, jeden Tag sterben Menschen, die man durch vernünftiges Verhalten retten hätte können. Gleichzeitig ziehen wütende Impfgegner durch die Straßen, und manche Politiker empfehlen allen Ernstes ein Entwurmungsmittel im Kampf gegen Viren. Irgendetwas läuft hier gewaltig schief.

Über die Gründe dafür wird man noch jahrzehntelang diskutieren. Aber eines scheint heute schon klar: Wir haben es mit einem kulturellen Problem zu tun – mit einer verbreiteten, tiefsitzenden Wissenschaftsfeindlichkeit. Sie ist nicht neu. Aber sie war schon lange nicht mehr so gefährlich wie heute.

Fortschrittsfeindlichkeit und Esoterik

Wir leben in einem Land, in dem technischer Fortschritt nicht als Chance gesehen wird, sondern als etwas Unnatürliches, dem man zunächst einmal mit Misstrauen begegnen muss. Chemie? Ist doch giftig! Gentechnik? Da wächst uns dann ein dritter Arm! Neue Handynetze? Die Strahlung wird uns töten! Dass Technologie und Wissenschaft unser Leben in Wahrheit unvergleichlich viel angenehmer, gesünder und vielfältiger gemacht haben, wird vergessen.

Wir leben in einem Land, in dem Altes und „Natürliches“ auf irrationale Weise verklärt wird: Omas Hausmittel statt Krankenhausbesuch? Klar, uraltes Erfahrungswissen! Kräutersalbe vom Wunderheiler? Klingt doch irgendwie gesünder als eine Chemotherapie! Angekohltes Grillfleisch? Hat man früher doch auch gegessen! Dass die Natur voll von Dingen ist, die uns krankmachen oder umbringen können, wird ignoriert.

Wir leben in einem Land, in dem Esoterik, Pseudowissenschaft und Alternativmedizin als harmlos gelten: Der Guru sagt, ich soll mir einen Orgon-Akkumulator kaufen? Kann ja nicht schaden! Feinstofflich belebtes Energiewasser? Klar, den Aufpreis zahle ich gerne! Homöopathie? Das ist doch eine sanfte Heilmethode! Dass sich all das in wissenschaftlichen Untersuchungen als nutzlos herausgestellt hat, interessiert uns nicht.

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen all diesen tiefsitzenden antiwissenschaftlichen Bauchgefühlen und unserer gesellschaftlichen Unfähigkeit, gemeinsam rational auf eine Pandemie zu reagieren. Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit wird als liebenswerte Schrulligkeit belächelt, aber sie ist ein ernstes Problem: Sie erschwert faktenbasierte Diskussionen.

Nicht alles Falsche ist gleich falsch

Und trotzdem wäre es falsch, all das auf dieselbe Stufe zu stellen. Nein, Globuli gegen Schnupfen sind nicht genauso schlimm wie die These, dass uns die Regierung mit der Impfung alle umbringen möchte. Zeitungshoroskope sind nicht so schlimm wie die Behauptung, dass Entwurmungsmittel die Impfung ersetzen kann. Geschäftemacherei mit esoterischen Unsinns-Produkten ist nicht genauso schlimm wie Gewaltaufrufe gegen Staat und Wissenschaft. Nur weil das eine zum anderen geführt hat, ist nicht beides gleich gefährlich. Regen kann auch zu Flutkatastrophen führen. Aber das Problem ist die Flutkatastrophe, nicht der Regen.

Ja, es gibt Menschen, die vernünftigen Argumenten nicht mehr zugänglich sind, die sich in Verschwörungstheorien verrannt haben, die sich radikalisiert haben bis zur Gewaltbereitschaft. Das sind zum Glück nicht viele. Diesen Leuten muss man klar sagen, dass ihre Behauptungen inakzeptabel sind – und das muss nicht immer nur mit freundlichen Worten geschehen. Irgendwo müssen wir ganz klar eine rote Linie ziehen. Aber sie darf keine Trennlinie mitten durch die Gesellschaft sein, zwischen der wissenschaftsfreundlicheren und der weniger wissenschaftsfreundlichen Hälfte. Abgrenzen müssen wir uns vom extremistischen Rand, weit draußen am faktenabgewandten Ende des Spektrums. Nur weil die Ablehnung von Fakten ein inakzeptables Maß erreicht hat, dürfen wir die Grenze zwischen dem Akzeptablen und dem Inazkeptablen nicht immer strenger ziehen.

Leute, die etwas Falsches glauben, sind nicht der Feind. Wir alle glauben etwas Falsches. Entscheidend ist, ob man sich bemüht, dazuzulernen und die eigenen Irrtümer aufzudecken. Das kann man einfordern. Von jedem. Auch von bisher Ungeimpften.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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