Computer sagt Corona-Mutationen voraus, bevor sie entstehen
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Seit Ausbruch der Pandemie ist das Coronavirus mehrfach mutiert. Inzwischen zählt etwa die britische Variante B.1.1.7 in Wien schon zur dominierenden. Etwa 70 Prozent der Infektionsfälle lassen sich laut dem medizinischen Krisenstab diesem Typ zuordnen. Einer neuen Studie zufolge ist diese Variante nicht nur ansteckender, sondern um auch 55 Prozent tödlicher als die Wildvariante.
Dass das Virus einmal mutieren würde, war absehbar. Denn alle biologischen Systeme verändern und entwickeln sich permanent weiter – neben Menschen, Tieren und Pflanzen eben auch Viren. Um überleben zu können, sind diese von Wirtszellen abhängig. Viren schleusen darin ihre Erbinformationen ein und vermehren sich. Dabei wird das virale Genom kopiert. Bei diesem Kopiervorgang können immer wieder zufällige Fehler passieren, wodurch das Erbgut verändert wird. Diese Veränderungen werden als Mutationen bezeichnet.
Beste Aussichten
Die meisten Mutationen sind für den Menschen harmlos. Manchmal aber erleichtern sie dem Virus die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen, sodass es effizienter in die Wirtszelle eindringen kann und ansteckender wird, wie eben die britische Variante. Veränderungen können spontan erfolgen oder durch Beeinflussung externer Umweltfaktoren, wie eine erhöhte UV-Strahlung. „Äußere Faktoren spielen eine große Rolle. Aber nicht in der Hinsicht, welche Mutationen überhaupt entstehen, sondern welche sich schließlich durchsetzen“, sagt Christian Gruber, CEO des Biotech-Start-ups Innophore, ein Spin-off des Forschungszentrums Austrian Center of Industrial Biotechnology (acib) und der Universität Graz.
Welche Mutationen die besten Durchsetzungschancen haben und für den Menschen gefährlich sein könnten, erkennt eine auf künstliche Intelligenz (KI) basierende Anwendung, die Gruber und sein Forschungsteam entwickelt haben. Und das, bevor das Virus überhaupt mutiert ist. Die dafür genutzten Daten basieren auf atomaren Strukturen der Virusteile, die Hinweise auf das Verhalten des Virus geben können. Wie schnell Viren mutieren, hängt von der Art des Virus ab, wie Gruber der futurezone erklärt. Corona gehöre hinsichtlich der Mutationsfrequenz nicht zu den schnellsten. Aber: Je weiter verbreitet ein Virus ist, umso eher kann sich eine Mutation durchsetzen. Dass es bei den bereits bekannten Corona-Mutationen bleiben wird, ist also auszuschließen.
Sequenzierungen global
Seit Jänner 2020 forschen die Grazer Wissenschafter an entstehenden Veränderungen. Anfangs haben sie den strukturellen Aufbau des Virus untersucht, wodurch sie nachvollziehen konnten, an welcher Stelle es sich verändert und wie es sich in Zukunft verändern könnte. Gemeinsam mit internationalen Partnern werden seither zudem globale Sequenzdaten analysiert – inzwischen belaufen sich die vorgenommenen Sequenzierungen weltweit auf mehr als eine halbe Million. Mit diesen und neuen Daten können Ausbreitung und Veränderung genau beobachtet und unterschiedliche Szenarien berechnet werden. „Es ergeben sich immer wieder einzelne Mutationen, die potenziell von Interesse sind“, sagt Gruber. Welche man im Blick behalten sollte und welche irrelevant sind, darüber informiert die KI.
Dazu zählen auch momentan noch weniger verbreitete, aber strukturell auffällige Mutationen, die stärker an menschliche Zellrezeptoren binden. Zwei davon sind die Varianten S477N und S477G, die das Modell vor einigen Monaten prognostiziert hat. „Die Mutationen sind genauso eingetreten, wie unser Modell es vorhergesagt hat“, erklärt der Fachmann. Letztere ist erstmals in Wien aufgetreten und hat sich mittlerweile in 8 Ländern ausgebreitet. Mit der S447N-Mutation haben sich indes bereits mehr als 27.000 Menschen weltweit infiziert. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir es im Laufe der nächsten Jahre noch mit vielen Mutationen zu tun haben werden“, betont der Experte. Ein Vorausblick auf potenziell gefährliche und sogar hypothetische Virusvarianten kann lebensnotwendig sein und dabei helfen, deren Verbreitung rasch abzubremsen.
Impfstoffe anpassen
Insbesondere Medikamente- und Impfstoffhersteller können von derartigen Zukunftsprognosen profitieren. Denn je früher für den Menschen relevante Varianten erkannt werden, umso schneller können präventiv Medikamente entwickelt oder existierende Vakzine angepasst werden. Die innerhalb der EU zugelassenen Impfstoffe zeigen jedenfalls eine gute Wirksamkeit, auch gegen die weitverbreitete britische Variante. Bei der südafrikanischen und brasilianischen Mutation dürfte die Wirksamkeit je nach Vakzin verringert, aber nicht aufgehoben sein. Hier bedarf es aber mehr Daten.
Ein wenig Geduld brauchen wir jedenfalls noch. Dem Spezialisten zufolge könnte uns die Krise nämlich noch länger begleiten. Gegen sie ankämpfen müssen wir gemeinsam. „Je besser der Immunisierungsgrad ist und die Maßnahmen eingehalten werden, desto leichter tun wir uns mit der Situation.“
Mutationen weltweit weiter auf dem Vormarsch
London war die Brutstätte der britischen Corona-Variante, Ostkap jene der südafrikanischen und in Manaus entstand die brasilianische. Nun hat auch Italien eine Eigene. In der Gemeinde Viggiù wurde bei 5 Bewohnern kürzlich eine neue Mutation entdeckt. Wie ansteckend sie ist, wird noch geprüft.
Eine ansteckendere Variante wurde auch in Frankreich entdeckt. In einem Krankenhaus in Lannion kam es zu einem Ausbruch. In Deutschland hingegen wurde erstmals die Mutation B.1.525 nachgewiesen. Laut der Diagnostik-Firma Centogene vereint diese die Eigenschaften der britischen, südafrikanischen und brasilianischen Variante. Diese ist wahrscheinlich ansteckender als andere.
In New York breitet sich indes die Variante B.1526 aus, die Ähnlichkeiten zur südafrikanischen aufweist. Laut dem medizinischen Berater des Weißen Hauses, Anthony Fauci, dürfte sie im Stadtteil Washington Heights entstanden sein. In dieser Variante wurden 2 Mutationen entdeckt: S477N und E484K, die auch bei der brasilianischen und südafrikanischen Variante nachgewiesen wurden. Dadurch könnte sie gegen Impfstoffe resilienter sein.
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