Doomscrolling: So entkommt man der negativen Bilder-Flut im Netz
Ob überflutete Autobahnen oder kleine Rinnsale, die binnen kürzester Zeit zu reißenden Wassermassen wurden und Bäume entwurzelten: In den vergangenen Tagen machte es kaum einen Unterschied, ob man ein klassisches Nachrichtenportal ansteuerte oder auf Instagram, TikTok oder Facebook unterwegs war – den Bildern der Naturkatastrophe, die Österreich heimgesucht hat, konnte man nur schwer entkommen.
Zwar kann es in einer solchen Situation wichtig sein, gut informiert zu sein, etwa wenn man selbst in einem betroffenen Gebiet lebt. Andererseits kann ein Übermaß an negativen oder bedrückenden Bildern und Nachrichten auch schädlich für das psychische Wohlbefinden sein. Für das stundenlange Konsumieren negativer Inhalte im Internet gibt es sogar einen Begriff – „Doomscrolling“. Übersetzt bedeutet das „Untergangs-Scrolling“.
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Deshalb faszinieren uns die Bilder der Fluten
Allgemein ist bekannt, dass negative Inhalte über Katastrophen oder andere schlimme Ereignisse besonders häufig auf Social Media konsumiert werden. „Es gibt verschiedene Erklärungen, warum wir uns zu negativen Nachrichten hingezogen fühlen. Zum einen gibt es einen Negativitäts-Bias. Menschen fühlen sich eher zu negativen Nachrichten hingezogen als zu positiven. Das kennen wir auch aus dem Alltag: Kritisches Feedback merken wir uns oft eher, selbst wenn wir viele positive Rückmeldungen bekommen haben“, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Kathrin Karsay von der Universität Wien gegenüber futurezone. „Zum anderen kommt noch eine gewisse Sensationslust hinzu, da negative Nachrichten oft dramatisch und emotional aufgeladen sind. Diese Emotionalität zieht auch mehr Aufmerksamkeit auf sich“, meint sie. Plattformen wie Instagram, TikTok und Facebook wissen das, denn so verbringen wir mehr Zeit auf der jeweiligen App.
Nimmt Doomscrolling überhand, kann das Stress, Ängste und sogar depressive Verstimmungen auslösen, wie mehrere Studien zeigen. Eine Studie aus dem August, für die 800 Studierende in den USA und im Iran befragt wurden, kam zu dem Schluss, dass man dadurch sogar eine Art „Stellvertreter-Trauma“ entwickeln kann. Das bedeutet, dass Menschen, die ständig und intensiv negative Inhalte konsumieren, im schlimmsten Fall ähnliche Symptome entwickeln können wie tatsächliche Opfer traumatischer Erfahrungen. Es kann aber auch dazu führen, dass eine Situation noch schlimmer erscheint, als sie tatsächlich ist. „Doomscrolling kann bewirken, dass man in eine Paniksituation gerät, aus der man selbst nur schwer herauskommt“, erklärt die Medienpädagogin Barbara Buchegger.
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So stoppt man die Negativ-Schleife
Wer merkt, dass er in eine solche Spirale gerät, kann selbst etwas dagegen tun. Die erste entscheidende Frage angesichts einer Katastrophe, wie etwa den Überschwemmungen der vergangenen Tage, ist, ob man selbst oder nahestehende Personen unmittelbar betroffen sind. Je größer die persönliche Betroffenheit, desto schwieriger fällt es, Distanz zu wahren. „Wenn man allerdings selbst nicht stark betroffen ist, kann man sich distanzieren“, erklärt Buchegger.
Aber auch direkt Betroffene können etwas tun: Sie sollten ihre Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen wie seriösen Nachrichtenportalen beziehen und bei Social Media vorsichtig sein. „Oft sieht man Bilder, bei denen nicht sicher ist, ob sie wirklich das zeigen, wofür man sie hält. Nicht alle Aufnahmen müssen von der aktuellen Situation stammen. Es kursieren auch viele Fake News, wie zum Beispiel, dass die Stromversorgung nicht mehr funktioniert oder die Grundwasserversorgung bedroht ist“, erklärt Buchegger. Oft wirke das Problem durch einzelne Ausschnitte größer, als es tatsächlich sei.
Wer nicht persönlich unmittelbar von der Krise betroffen ist und merkt, dass er oder sie in eine Negativ-Spirale gerät, sollte laut der Expertin bewusste Pausen von Nachrichten und Social Media einlegen. „Dann sollte man andere Inhalte konsumieren, weil man sonst oft in einen Panikzustand geraten kann“, so Buchegger.
Neustart für den Algorithmus
Auf vielen Plattformen können Nutzerinnen und Nutzer, die merken, dass sie in einer Negativ-Spirale gefangen sind, auch den Algorithmus zurücksetzen. „Das kann auch helfen, wenn man in ein Thema hineintappt“, erklärt Buchegger. Generell gibt es nämlich die Möglichkeit, den Algorithmus ein Stück weit zu beeinflussen.
Auf TikTok kann man beispielsweise den Algorithmus zurücksetzen oder bestimmte Inhalte herausfiltern (etwa „Gewitter“, „Hochwasser“ oder „Überschwemmung“). Das geht unter Profil > Menü > „Einstellungen und Datenschutz“ > „Inhaltspräferenzen“ > „Für dich“ > „Weiter“ > „Aktualisieren“.
Auf Facebook oder Instagram kann man den Algorithmus bewusst manipulieren, indem man gezielt andere Inhalte sucht oder liked. Auf Instagram kann man auch Inhalte bewusst ausblenden, indem man bei einem Beitrag im Feed rechts oben auf die 3 Punkte klickt und dann „Kein Interesse“ auswählt. Dann wird der Beitrag verborgen und man kann Instagram mitteilen, warum. Man kann zum Beispiel wählen: „Mir war der Beitrag unangenehm.“
Es kann auch sinnvoll sein, Push-Nachrichten abzuschalten. Das sind Eilnachrichten, die direkt auf dem Bildschirm erscheinen. Auch das bewusste Entfolgen einzelner Seiten kann ratsam sein.
Digitale Nächstenliebe
In einer Krise sollte man – wie auch sonst – nicht nur an sich selbst, sondern auch an seine Mitmenschen denken. Das gilt auch für Social Media. Nutzer sollten daher gut überlegen, welche Aufnahmen sie mit anderen teilen und warum sie das tun. Nicht jede drastische Aufnahme muss man den Freunden im eigenen Feed zeigen.
„Viele Leute interessiert es, wie der Donaukanal in Wien aussieht. Andererseits trägt es zur Emotionalisierung bei und fördert Panik. Auch wenn die Bilder beeindruckend sind und die U-Bahn nicht mehr fährt – die Stadt wird nicht überschwemmt. Man muss hier abwägen und daran denken, wer einem folgt. Sind es Menschen, die dann in Panik geraten?“, meint Buchegger. Pauschal lasse sich diese Frage nicht beantworten. „Ganz allgemein sollte man sich bei der Nutzung von Social Media Ziele setzen: Was will man dadurch erreichen oder wissen?“
Besondere Vorsicht sollten Eltern von Kindern in Krisensituationen walten lassen: Sie sollten erklären, warum sie besorgt sind und wie die Familie betroffen ist. Andernfalls könnten die Kinder verunsichert werden und die Katastrophe auf sich selbst beziehen.
Eine generelle Social-Media-Abstinenz in Krisenzeiten hält Buchegger nicht für sinnvoll: „Wir wollen ja wissen, was passiert. Es ist eine natürliche Eigenschaft des Menschen, dass er wissen will, was vor sich geht. Wenn die Katastrophe aber keinen direkten persönlichen Bezug hat, sollte man Pausen einlegen, bis man sich wieder sicher fühlt. Im Panikmodus verliert man nämlich die Fähigkeit, mit kühlem Kopf Einschätzungen zu treffen“, meint sie.